Landgut

Die Sachen waren gepackt. Endlich konnte die lang erwartete Reise beginnen. Die stressigen Arbeiten der letzten Wochen waren vorbei, zum Ausspannen sollte es auf ein englisches Gut gehen. Eine jahrhundertealte Tradition wurde dem Domizil nachgesagt. Inklusive eines Hausgeistes und vielerlei Heldensagen von Ritterkämpfen und Ähnlichem mehr. Dabei war die Unterkunft selbst eher klein. Sie gehörte zu einem größeren Hof, der jedoch vor zweihundert Jahren einem Feuer zum Opfer fiel. Niemand kümmerte sich seither um das Gut. Einzig der Lord, in dessen Ländereien das Haus stand, ließ es renovieren und vermietete es gelegentlich. Diese Tradition setzte sich bis zu seinem heutigen Nachfahren fort.

Silke hatte alles gelesen, was sie über diese Landschaft finden konnte. Sehr viel war das sicherlich nicht. Aber sie wollte unbedingt eintauchen in die Geschichte des Hauses, des kleinen Brunnens sowie der Wälder und Wiesen, die dem Fachwerk einen würdigen Rahmen gaben und es in die Landschaft integrierten. Besonders freute sich Silke auf das letzte Stück der Reise. Dieses sollte nämlich mit einer Kutsche in Angriff genommen werden. Autos fuhren in der dortigen Gegend nur äußerst selten. Lieber ging man gemächlich zu Fuß oder spannte die Pferde an. Schließlich lebte man nicht gegen, sondern mit der Natur. Für einen Urlaub also genau der richtige Ort.

Mit einer kleinen Bahn ging es in einen kleinen Ort und von dort mit dem Bus auf das Land. So idyllisch es hier war, so ausgestorben schien es. Die Kutsche kam trotzdem pünktlich, nahm die Reisende samt Gepäck auf und fuhr sie im Galopp den sandigen Weg entlang zum Haus. Vorbei an knorrigen Bäumen, die sich biegsam im sachten Winde wogten und deren Blätterrauschen nur von dem dumpfen Klappern der Pferde übertroffen wurde. Hier war sie nun. Ganz alleine auf sich gestellt. So wie sie es wollte.

Ein kleiner Forellenbach im Wald

Den ersten Tag verschlief Silke beinahe vollständig. Zu mühsam war die Fahrt, zu anstrengend kamen ihr die letzten Wochen vor. Ihr Gepäck hatte sie kaum in den Schränken verstaut und die niedrigen Räume des Domizils erkundet, da versank sie bereits in dem alten Holzbett und wachte erst am nächsten Morgen darin auf.

Bald schon machte sie sich daran, die Landschaft zu genießen. Die Wälder boten ihr Schatten, in dem kleinen Bach schwammen die Forellen und in den Wiesen schaute immer mal ein Fuchs aus dem hohen Gras.

Doch schon zog Ärger herauf. Denn Silke hatte eine der Angeln benutzt, die im Unterstand des Hauses an der Wand hingen, und damit sogar einen Fisch gefangen. Dabei wurde sie beobachtet und die Meldung sofort dem Lord überbracht, in dessen Ländereinen das Haus stand und dem der Bach und der Fisch gehörten. Noch am selben Abend pochte er an der Türe und forderte einen Ersatz. Denn Silke durfte hier zwar wohnen, doch nicht angeln. Sie durfte die Wälder durchschreiten, doch keine Beeren von den Sträuchern pflücken. Darauf legte der Lord großen Wert. Und was ihm genommen wurde, forderte er zurück.

Nach kurzem Schrecken lenkte Silke jedoch ein. Wozu der Zwist, wenn es auch friedlich geht? Der junge Landbesitzer, der ihr gegenüberstand, gefiel ihr zudem. Kurzum wurde der Fisch gebraten und dazu eine Flasche des köstlichen Rotweines geöffnet, der sich noch im Gepäck befunden hatte. Bei Kerzenschein und der romantischen Umgebung vergaß auch der Lord seinen Unmut, genoss den Fisch und das Gespräch, das beide anregend führten. Schon tags darauf erkundeten sie die Ländereien gemeinsam. James, so hieß der Herr, konnte zu beinahe jedem Baum eine Geschichte erzählen und präsentierte sich als echter Kenner der Umgebung. Ein wahrer Segen für Silke.

Vielleicht sogar mehr. Denn sie hatte sich in ihn verliebt, wie auch er in ihre Gunst versunken war. Jedoch neigten sich die Tage des Urlaubes so langsam dem Ende entgegen. Bleiben oder fahren, das war die Frage, die beide sich stellten. Konnte sie ihre sichere Arbeitsstelle aufgeben und ihre Freunde verlassen? Nein, das brachte Silke nicht fertig. Mit Tränen in den Augen winkte sie James letztmalig aus der Kutsche zu, die sie heimwärts brachte.

Doch auch dort blieb sie nicht lange. Bereits zum Weihnachtsfeste hatte sie sich ihrem Geliebten wieder in die Arme geworfen. Nur diesmal blieb sie.

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