Prinzessin - Thronfolge
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Sophie sah aus dem Fenster des Herrenhauses. Grüne Ländereien lagen zu ihren Füßen, am Horizont erstreckte sich ein unermesslich großer Wald. Das alles würde bald ihr gehören. Von den Pferdestallungen, die sich rechts in ihrem Blickfeld einfanden, bis hin zu den Weiden, die linker Hand sacht zu dem Gewässer führten, war das ein großes Stück Land. Und es war nur ein Ausschnitt dessen, was ihr künftiger Gemahl ihr bot. Nein, bieten musste. Es war ein Teil des großen Ganzen. Doch damit kehrte auch die Sorge zurück in das eigentlich unbekümmerte Gemüt der jungen Dame, die soeben erst ihre Volljährigkeit erlangt hatte: Wer genau war eigentlich ihr Gatte - wer war der Mann, mit dem sie die hiesigen Kostbarkeiten bis an ihr Lebensende würde genießen können? Nur er hatte den Schlüssel für diesen goldenen Käfig, in dem Sophie von alleine hineinfliegen wollte, anstatt darin eingesperrt zu sein.

Vor zehn Jahren hatte sie ihren Gemahl zum ersten und gleichzeitig letzten Mal gesehen. Natürlich war ihr damals schon bekannt, wer er war und dass er künftig eines der mächtigsten Königshäuser des Kontinents leiten und einer jahrhundertealten Dynastie vorstehen würde. An diesem Tage war es auch, da die Eltern der beiden Kinder, die etwas verschüchtert im Hof mit den Hunden spielten, das Ehebündnis der Zukunft schmiedeten. Die einen gaben umfangreiche Besitztümer und ihre Tochter her. Die anderen zahlten den Pakt mit dem Privileg, einst zur Königsfamilie zu gehören. Adelig waren die Vorfahren Sophies schon seit vielen Generationen gewesen. So nahe aber standen sie dem Thron noch nie. Es eröffnete sich somit eine Tür, die das junge Mädchen betreten musste. Ob sie das auch tatsächlich wollte, spielte bei der Übereinkunft keine Rolle.

Selbstverständlich erfuhren die Medien einen anderen Teil der Geschichte. Das Paar habe sich gemeinsam auf einer Feier kennen und lieben gelernt. Dass tatsächlich aber machtpolitische Ränkespiele die Zukunft einer jungen Dame und eines nur geringfügig älteren Mannes bestimmten, wurde verschwiegen. Für Sophies Familie zählte nur eines: Sollte aus der ehelichen Verbindung ein Kind hervorgehen, so würde es dereinst den Anspruch auf den Thron geltend machen können. Der ewige Kampf um die Vorherrschaft wäre damit erfolgreich bestritten. Dem Königshaus liefe dann ein Tropfen jenes Blutes durch die Adern, das bislang der Krone fern war. Sophies Vorfahren hatten immer schon Generäle, Berater und Beamte gestellt. Personen also, ohne die der Hof nicht regierungsfähig gewesen wäre und das Militär nicht hätte in den Krieg ziehen können. Doch wenn Sophie nun den Prinzen ehelichte, änderte sich vieles. Die Macht war greifbarer denn je.

Sophie durchschritt das prunkvoll eingerichtete Zimmer. Das unter ihren Füßen liegende Holzparkett hatte bereits viele Generationen an Adeligen erlebt. Selbst die Bücher, die schon manches Jahrhundert hier standen, wirkten nahezu neuwertig. Aber je mehr sich die blonde Dame auch in das Interieur einzufinden gedachte, so sehr wurde ihr bewusst, dass sie hier fremd war. Noch immer hatte sich daran nichts geändert. Als sie vor drei Tagen erstmals hier eintraf, kam ihr das Schloss wie eine neue Welt vor. Verborgen, vielleicht sogar verwunschen. Wie bei einem Amtsantritt hatte sie sich eingefunden, wissend, dass ihr künftiger Gemahl noch Termine wahrnehmen muss und erst kurze Zeit später das Herrenhaus betreten wird. Diese enge Frist nutzte Sophie, um die Räumlichkeiten und die Umgebung zu erkunden. Sie standen ihr offen. Und doch fühlte sie sich wie in einem Käfig.

War das also ihre Zukunft? Lohnte es sich, ihren Nachkommen die Würde des Königshauses zu verleihen, damit aber das eigene Leben aufzugeben? Wenn sie nur wüsste, wer ihr Gatte eigentlich war. Wie hatte sich der pausbäckige Knabe von damals verändert, was war aus ihm geworden? Eingepfercht in ihren Gedanken, aus denen sich bald ein dichtes Netz an Sorgen webte, kreiste sie in dem zugewiesenen Raum, erblickte zum wiederholten Male das große Bücherregal, das Parkett und die Fenster zu den weiten Landgütern. Es war eine komprimierte Welt, die nur scheinbar alle Wege offenhielt. Notgedrungen konnte und wollte sie damit leben. Wenn nur, ja, wenn nur ihr Gemahl auch ihren Ansprüchen genügte. Denn was Sophie dachte und empfand, was sie sich wünschte und als Ziel setzte, das alles wurde übergangen.

Ein leichtes und zurückhaltendes, dennoch dominierendes Klopfen an der Holztür weckte Sophie aus den Gedanken, die sie gerade durchmaß. Ihr persönlicher Diener trat ein. Der Herr des Hauses sei gerade gekommen, übermittelte er die Botschaft. Das gnädige Fräulein möge sich bereithalten. Nun also war es so weit. Jetzt würde er kommen. Der Mann. Der Moment. Alles würde sich verändern. Von nun an gab es kein zurück mehr. Da schon nahten sacht die Schritte auf dem Korridor, kam der baldige Träger der Krone. Der Prinz schlug zaghaft mit dem Fingerknöchel gegen das Portal des Raumes, wartete Sophies Ruf ab und trat dann dezent ein. Lediglich einen Schritt zunächst, doch schon füllte seine Präsenz alle vier Wände. Die junge Dame und künftige Königsgattin erhaschte nur einen Blick - und fühlte sich doch glücklich und geborgen.