Endlich der ersehnte Jahresurlaub. Ulrike kann es kaum erwarten, dem verregneten Sommer ihrer Stadt zu entkommen und in südliche Gefilde davon zu fliegen. Ganz klassischer Badeurlaub am Mittelmeer, mehr oder weniger zur Hauptreisezeit, kurz vor den Schulferien. Eigentlich könnte sie auch später im Herbst fliegen, wenn weniger los ist, doch sie ist es seit ihrer Kindheit gewohnt, im Hochsommer ihren Urlaub am Meer zu verbringen.
Ulrike zieht es nicht in rappelvolle Diskotheken und erst recht nicht an überfüllte Strände. Deswegen hat sie auch ein wenig außerhalb gebucht, am Rande eines Ferienortes. Abends wartet in ihrem Ort zwar nicht die totale Partymeile, aber lebhaft soll es da schon sein. Zumindest wenn sie sich entschließen sollte, ins Ortszentrum zu gehen. Ihre Hotelanlage ist der Beschreibung nach schön leise, sodass sie sich von der Arbeit in den vielen Monaten davor erholen kann. Sie dachte, der Wechsel vom Sekretariat in die Einkaufsabteilung würde weniger Stress bedeuten. Doch da hat sie sich geirrt. Nun ist Ulrike wirklich urlaubsreif.
Bald liegt Ulrike am Strand und blickt auf die Bucht. Davor hat sie noch eine kleine Siesta gemacht, schließlich musste sie schon um sechs Uhr am Flughafen sein. Aber das kommt ihr vor wie ein Hallen aus einer alten Zeit. Ihr neues Leben hat begonnen. Es startet jetzt und wird in zwei Wochen enden, wenn sie der Bus ihres Reiseveranstalters zum Flughafen bringen wird. Doch daran will sie im Augenblick wirklich nicht denken.
Ihr Ferienort sieht richtig idyllisch aus dafür, dass er recht groß ist und viele Touristen anlockt. Aber die tummeln sich vor allem im Zentrum der Bucht und liegen dort Handtuch an Handtuch. Hier am Ortsrand hat Ulrike ihre Ruhe und ausreichend Abstand. In dem Moment setzt sich ein junger Mann neben sie. Er wirkt frisch und Wasser tropft noch an seinem Körper. Er will wissen ob sie auch einen gratis Mietwagen für einen Tag bekommt, als Bonus für die Buchung in ihrem Hotel. Dabei deutet er auf Anlage, in der auch Ulrike wohnt.
"Das mit dem Mietwagen wäre mir neu.", sagt Ulrike.
Erst war sie genervt davon, angesprochen zu werden. Sie wollte sich entspannen und nicht gleich in Kontakt mit Leuten kommen, die sie nicht kennt. Das ist ihr gerade zu anstrengend. Und noch weniger will sie von einem Studenten angebaggert werden. Doch der Typ wirkt nur auf den ersten Blick so jugendlich. Er scheint sogar etwas älter als Ulrike zu sein, nach einer näheren Einschätzung. Doch der Hauptgrund, warum Ulrike sich einen Ruck gibt, mit ihm zu sprechen, liegt darin, dass er einfach sehr gut aussieht. Ihr neues Ferienleben hat begonnen und da darf sie auch oberflächlich sein.
Offenbar war das mit dem kostenlosen Wagen nur ein zeitlich begrenztes Angebot eines anderen Veranstalters.
"Ich bin übrigens Marc.", stellt sich Ulrikes neue Urlaubsbekanntschaft vor.
Sie quatschen noch ein wenig über den Ort und das Meer, dann entschuldigt sich Marc. Er muss das mit dem Mietwagen klären und wie er ihn bekommt.
Beim Abendessen trifft Ulrike auf Marc. Er kommt ihr gerade entgegen, als sie den Speisesaal verlässt.
"Und? Hat das geklappt mit Wagen?"
"Ja.", sagt Marc. "So mehr oder weniger. Man bekommt ihn aber nur, wenn man noch mindestens einen weiteren Tag dazu bucht."
"Wieso bin ich nicht überrascht?"
"Ach, das ist in Ordnung. Ich wollte den sowieso für mehrere Tage. Ein wenig die Gegend ansehen."
"Dann wünsche ich dir noch viel Spaß dabei.", verabschiedet sich Ulrike. "Und verfahre dich nicht."
Während sie weitergeht, überlegt Ulrike, warum sie das mit dem Verfahren gerade gesagt hat. Aber sie war insgeheim nervös. Sie ist es nicht gewohnt, mit fremden Männern zu reden.
Am nächsten Nachmittag liegt Ulrike wieder am Strand. Die Sonne steht schon etwas tiefer. Sie schließt die Augen und hört den Wellen zu. Irgendetwas wird neben ihr durch den Sand gezogen. Als sie einen Blick auf die Quelle dieser Disharmonie wirft, erkennt sie Marc, der gerade die freie Liege neben ihr etwas näher zu Ulrike schiebt.
"Autotour schon vorbei?"
"Ja.", berichtet Marc. "Ich bin nur ein paar Stunden durch die Gegend gefahren. Ohne großes Ziel. Die Landschaft hier ist wirklich schön. Konnte ein paar tolle Fotos machen. Ein Hobby von mir.
"Mit dem Smartphone?"
"Nein, mit einer etwas größeren Kamera. Wenn du willst, kann ich dir nachher die Bilder auf meinem Tablet zeigen."
Und so wurde aus der Begegnung am Strand ein Date. Sie treffen sich vor dem Abendessen an einem der Tische in der Nähe eines Pools und Ulrike schaut sich Marc Fotos an. Sie wirken oft recht kreativ und zeigten Steinformationen oder abstrakt wirkende Ausschnitte eines Sandstrandes.
Danach gehen sie in den Speisesaal und beschließen, das Abendessen gemeinsam zu nehmen. Offenbar ist heute etwas, das sie Gala Diner nennen. Später soll es eine Veranstaltung am Pool geben, mit Livemusik und anschließendem Tanz.
Während der Sänger südländische Liebeschnulzen vorträgt, kommen sich Ulrike und Marc vor, wie im falschen Film.
"Du, ich glaub, dieses Programm ist für ein anderes Semester gedacht.", sagt Marc.
"Meinen Eltern würde das gefallen.", scherzt Ulrike.
"Die siehst gar nicht aus, als ob deine Eltern schon neunzig wären", lacht Marc. "Du, lange kann ich mir das nicht mehr geben."
"Mein Ding ist das auch nicht."
"Lass uns doch in eine Bar in die Innenstadt gehen.", schlägt Marc vor.
Als Ulrike in ihr Apartment zurückkehrt, wird es gerade hell. Sie hat Marc ein Bussi auf den Mund gegeben und dann ist sie die Treppe hoch zu ihrer Zimmertüre. Sie haben die ganze Nacht durchgefeiert und getanzt, sind in zwei verschiedenen Diskotheken gewesen und hatten überraschend viel Spaß. Ulrike könnte die Welt umarmen und ärgert sich gleichzeitig. Sie hat sich von Marc zu vorschnell verabschiedet. Ein Bussi kommt ihr auf einmal zu wenig vor für diese ausgelassene Nacht. 209. Das war seine Zimmernummer. Ulrike kann gut mit Zahlen und hat sie sich gemerkt. Nun wählt sie diese Nummer auf dem Hoteltelefon. Kurz darauf meldet sich Marc.
"Du hast etwas vergessen.", sagt Ulrike, immer noch aufgedreht und in Flirtlaune.
"Was denn?"
"Da musst du schon selbst drauf kommen."
Nicht viel später klopft er an ihre Türe.
"Ich glaube ich weiß, was es war."
Am übernächsten Vormittag wartet Marc in seinem Jeep vor dem Hotel auf Ulrike. Die wollte in einer Minute beim Auto sein, aber nun sind es schon mehr als zehn und er darf da eigentlich nicht parken. Zum Glück steht da der Typ vom Hotel, der für ihn das mit dem Gratis-Tag beim Mietwagen erledigt hatte und dem er ein viel zu hohes Trinkgeld dafür gab. Ein anderer Mitarbeiter wollte Marc wegschicken und deutete auf das Halteverbotsschild, aber der nette Empfangsmitarbeiter intervenierte und sagte zu Marc, dass alles in Ordnung ist und er da ruhig warten kann. Endlich erscheint Ulrike und Marcs Herz springt ein wenig höher. Für seine neue Freundin, die noch dazu so toll aussieht, hätte er notfalls noch viel länger gewartet.
"Da bist du ja endlich."
"Sorry."
"Kein Problem."
Der warme Wind weht ihnen während der Fahrt entgegen. Marc hat einen offenen Jeep gemietet, wofür Ulrike ihm dankbar ist. Sie liebt Cabriofahren. Nicht im Alltag, sondern an Tagen wie diesen im Sommer, wenn man sich frei fühlt und es nach oben keine Begrenzung geben soll.
"Wohin geht es denn?", fragt Ulrike.
Beide lachen. Das war ein Scherz. Sie kennen sich schon ein wenig. Zumindest ihre Urlaubspersönlichkeiten. Natürlich geht es nirgendwo hin. Sie fahren einfach ins Blaue, denn zufällig finden es beide doof, Sehenswürdigkeiten aus dem Reiseführer abzuklappern.
"Also wenn überhaupt gezielt irgendwo hinfahren, dann zu einem Ort, an dem man supertoll baden kann, vielleicht eine einsame Bucht."
Erneut lachen sie beide. Das Thema hatten sie gestern Nacht, als sie nicht einschlafen konnten. Sie kamen zu dem Schluss, dass es so etwas wie einsame, idyllische Badebuchten auf der ganzen Insel nicht gibt. Nicht, dass sie sich davon persönlich überzeugt und die Küste abgeklappert hätten, aber das gebietet alleine die Logik.
Ulrike und Marc verbringen die kommenden Urlaubstage zusammen. Beide haben sich als allein reisende Singles im Grunde gewünscht, jemanden kennen zu lernen. Marc wollte ursprünglich mit einem Freund in den Urlaub, doch in dessen Firma gab es ein Problem und er musste in letzter Sekunde stornieren. Ulrike dagegen genießt es, alleine wegzufliegen. All ihre Freunde haben sowieso Familie mit kleinen Kindern. Da wäre mitfahren nicht wirklich eine Option.
"Ich bin froh, dass alles so kam, wie es kam.", sagt Marc zu Ulrike, während sie bei Sonnenuntergang am Strand entlang spazieren.
Die Brandung berührt ihre Füße im Sand, während sie gehen. Marc hat seine helle Leinenhose mehrfach umgekrempelt, damit sie nicht nass wird. Ulrike trägt einen Rock, der ihr bis über die Knie geht und den sie vorsichtshalber ein wenig hochzieht, wenn das Meerwasser auf ihre Unterschenkel trifft.
"Ja. Das Schönste wäre, wenn das hier immer so weiterginge und dieser Urlaub niemals endet."
Kurz legt sich ein dunkler Schatten über die Stimmung, durch die Erinnerung, dass sie irgendwann zurück in ihre Heimat müssen. Doch beide beschließen spontan, sich auf den Teil des Satzes zu konzentrieren, der ein ewiges Weitergehen betont.
Eine knappe Woche später eilt Ulrike aus dem Badezimmer. In einer halben Stunde muss sie an der Rezeption sein. Das Shuttle holt sie dann zum Flughafen ab. Sie ist im Stress. Das Telefon klingelt und sie hebt schnell noch ab, bevor Marc womöglich auflegt.
"Ich sollte dich erinnern, dass du in einer halben Stunde unten sein musst."
"Danke, das ist lieb."
"Wir sehen uns ja in ein paar Minuten."
"Bis nachher."
Ulrike ist froh, dass Marc zusammen mit ihr wartet. Aber eigentlich ist es selbstverständlich. Und auch, dass er ihr mit dem Gepäck hilft. Nicht, dass sie es alleine nicht tragen könnte.
Es klopft an der Türe. Es ist natürlich Marc. Bald heißt es, sich zu verabschieden.
"Ich würde ja mit zum Flughafen, aber ich fliege heute Nachmittag. Und ich habe noch nicht gepackt."
"Macht nichts.", sagt Ulrike. "Es ist schon nett, dass du unten mit mir gemeinsam wartest. Schließlich werden wir uns zwei Wochen lang nicht sehen."
"Du wirst mir fehlen.", flüstert Marc. Auf einmal kommen sich ihre Lippen näher und Ulrikes Knie werden weich.
"Keine gute Idee.", meint Ulrike und rückt von Marc weg. "Wir beide in einem geschlossenen Raum und Abreisetermine, die man verpassen könnte. Das sollten wir verschieben. In zwei Wochen kommst du mich ja besuchen."
"Du hast recht. Dann haben wir wieder genug Zeit für so etwas."
"Ich freu mich schon drauf.", sagt Ulrike und gibt ihm nun doch noch einen Abschiedskuss, solange sie ungestört sind. "Jetzt aber los."
Aus dem Flugzeug blickt Ulrike noch ein letztes Mal auf ihren Ferienort. Vielleicht wird sie nie mehr hierher zurückkehren. Aber wenn doch, dann ist es gut möglich, dass es zusammen mit Marc geschehen wird. Der trat wie selbstverständlich in ihr Leben. Mit jedem Tag, den sie zusammen verbrachten, wurde klarer, dass sie wie füreinander geschaffen sind.
Sie hatte eine wunderschöne Zeit erlebt. Die kann ihr niemand mehr nehmen. Das Beste ist aber, eine noch viel schönere Zeit könnte bevorstehen. Und an diesem Fleck Erde, der von ihrem Fenster aus immer kleiner wird, hat dann alles begonnen.