Vorsichtig steckte ich meinen Kopf durch das halb geöffnete Fenster: Tatsächlich, der Wind, der meine Wangen umspielte, war mild. Hellgraue Wolkenschleier verdeckten jedoch die Sonne, deren Strahlen nur vereinzelt durchbrachen. Ich packte trotzdem meine Sonnenbrille in den Rucksack und verließ in Vorfreude auf den schönen Samstag die Wohnung. Der Frühling war diesmal so spät dran, dass ich keine Sekunde verpassen wollte.
Das Straßencafé am Marktplatz war um diese Zeit nicht mal zur Hälfte besetzt. Ich suchte mir einen Tisch draußen direkt am Eingang aus, um den Platz gut überblicken zu können. Die meisten Obst- und Gemüsestände waren schon aufgebaut und die ersten Einkaufsbummler flanierten an den eigentümlichen Holzbuden vorbei.
Versonnen beobachtete ich die schöne Szenerie, als jemand neben mir rief: "Was darf ich dir bringen?"
Der linkische Kellner schien neu hier zu sein. Dieses verschmitzte Grinsen und der verwuschelte Out-of-Bed-Look wären mir sicher sonst schon aufgefallen. Etwas unbeholfen stellte er das Serviertablett auf dem Bistrotisch ab. Dabei übersah er meine Handtasche, die nun herunterfiel. Peinlich berührt hob er sie auf, hielt sie aber so ungeschickt, dass sich der gesamte Inhalt scheppernd auf das Kopfsteinpflaster ergoss.
Ich hatte Mühe, nicht laut loszulachen. Stattdessen half ich dem im Gesicht knallrot angelaufenen Kellner beim Aufklauben meiner Schlüssel und all den vielen Dingen, die sich eben in so einer Handtasche befinden. Als er mir das Etui der Sonnenbrille reichte, berührte er wie versehentlich meinen Unterarm. Ich war wie elektrisiert. Was war denn das? Auch er hielt erstaunt inne. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich für einige Sekunden aus der Zeit gefallen. Mit ihm.
Eine Woche später saß ich wieder bei frühlingshaften 20° C auf der Terrasse meines Stammcafés. Ich ertappte mich dabei, dass ich mich nach dem tollpatschigen Kellner umsah. Plötzlich drang ein lautes Scheppern aus dem Innern des Cafés nach draußen. Ich musste grinsen. Als der Kellner mir kurz darauf ungefragt einen Cappuccino servierte, hielt ich vorsichtshalber den Tisch fest.
Dann nahm ich mir ein Herz: "Darf ich dich heute Abend zu einem Cocktail in der Green Bar einladen?"
Der Caipirinha schmeckte ausgezeichnet. Durch die offene Tür wehte ein Wind den Duft von Ginster in die Bar. Ich sah nervös auf die Uhr: Meine Verabredung war schon fast 30 Minuten überfällig! Tausend Gedanken gingen mir durch den Kopf. Vielleicht war ich im Café doch zu forsch zu ihm gewesen? Oder liegt es daran, dass ich um einige Jahre älter bin als er? Nachdenklich nippte ich an meinem Cocktail. Von draußen hörte man nun die Sirene eines Krankenwagens, flackerndes Blaulicht erhellte den Eingangsbereich der Bar.
Mit ein paar anderen Gästen der Bar trat ich neugierig vor die Tür. In etwa 10 m Entfernung standen Kranken- und Polizeiwagen. Auf dem Boden konnte man ein zerbeultes Fahrrad erkennen. Zwei Sanitäter hievten einen Mann mit einer blutenden Stirne auf ihre Bahre. Ich erstarrte schockiert: Das ist doch der Kellner! Besorgt lief ich hinüber. Die Sanis waren gerade dabei, die Bahre in den Krankenwagen zu schieben
Ich rief hektisch "Halt!" und blieb neben der Trage stehen.
Der Kellner erkannte mich sofort und grinste mich breit an.
"Du siehst, ich bin nicht nur beim Servieren ungeschickt."
Die Sanitäter schoben die Bahre nun in den Krankenwagen. Ich gab mich als Freundin des Verletzten aus und durfte mich hinten zu ihm setzen. Während der Fahrt ins Krankenhaus passierte es wieder: Eine Spannung lag in der Luft, die elektrisierend wirkte. Und irgendwie fielen wir erneut aus der Zeit, als wir uns stumm anblickten und ich seine Hand hielt.
Ein paar Tage später stellte Benny meinen Cappuccino auf den Bistrotisch - ohne etwas umzuschmeißen.
Ich lächelte ihm anerkennend zu. "Bleibt‘s bei heute Abend? Um 20 Uhr bei mir?"
Benny nickte. Das Pflaster auf seiner Stirn ließ ihn irgendwie verwegen aussehen. Plötzlich beugte er sich zu mir herunter und küsste mich rasch auf den Mund.
"So lange wollte ich nicht warten", rief er und verschwand schnell im Innern des Cafés.
Ich aber atmete tief durch und genoss den späten Frühling mit Haut und Haar.