Glücklich sein

Mark war ein Typ, den sie Chamäleon nannten, weil er derart unauffällig war, dass er völlig mit seiner Umgebung verschmolz. Die wenigsten Menschen nahmen Mark überhaupt wahr. Und am allerwenigsten Lisa.

Sie hatte seidenes, dunkles Haar, tiefbraune Augen und ein Lächeln, welches das genaue Gegenteil von Marks Erscheinung war: magisch, anziehend, offen - niemand könnte sich ihrer Wirkung entziehen. Während die Menschen entzückt waren, wenn sie den Raum betrat, erschraken sie furchtbar, wenn Mark dies tat, denn Mark schien ihnen immer wie aus dem Nichts aufzutauchen. Das gruselte sie.

All das, was Lisa war, war er nicht. Und er liebte sie. Er liebte sie seit seiner Kindheit. Lisa war die Enkelin der alten Nachbarin und wann immer sie zu Besuch war, beobachtete er sie. Er saß am Fenster und schaute ihr dabei zu, wie sie ihrer Großmutter im Garten half oder wenn sie mit anderen Kindern spielte. Er lernte, welches ihre Lieblingseissorte war, ihre Lieblingsfarbe oder welche Blumen ihr gefielen. Ab und zu legte er ihr heimlich ein Buch vor die Türe, von dem er annahm, dass es sie ansprechen könnte.

Als er einmal erfuhr, dass sie krank geworden war, schnürte er ein Päckchen zusammen mit Dingen, die sie aufheitern sollten, und stellte auch dies unbemerkt vor ihre Tür. Er war wie ein kleiner Schutzengel, den sie jedoch nie zu bemerken schien. Seine Liebe zu ihr war so rein, dass es ihm nichts ausmachte, dass sie nicht wusste, wer er war und was er für sie empfand. Für ihn zählte nur, dass sie glücklich war und dass ihr kein Unrecht geschah. Und so vergingen die Jahre.

Bis Mark 22 Jahre alt war, interessierte ihn weiterhin nur Lisa. Viel erstaunlicher war jedoch, dass auch Lisa über die Jahre nie mit einem Jungen zusammen gewesen war. Verehrer gab es unzählige, aber sie schickte jeden einzelnen von ihnen immer wieder fort. Allmählich begann Mark, sich Sorgen um sie zu machen. War sie glücklich? Warum ließ sie sich auf niemanden näher ein? Sie war nicht oberflächlich. Sie war herzlich und ehrlich. Und doch schien ihr die Liebe verwehrt zu bleiben. Mark entschied sich, Lisa auf die Sprünge zu helfen. Ein wunderbarer Mensch sollte auch etwas Wunderbares wie die Liebe erlebt haben, fand er.

Er kaufte Bücher, Musik und Filme, in denen es irgendwie um Gefühle ging. Es gab Herzluftballons, Plüschtiere, einen Talisman; und er schrieb ihr ein Horoskop: Schon bald würde ihr die wahre Liebe begegnen und sie solle keine Angst davor haben, sie in ihr Herz zu lassen. Die Sterne stünden günstig für das ganz große Glück, das sie sich aufrichtig verdient hatte.

Wie gewohnt schnürte er das Päckchen und platzierte es heimlich vor ihrer Tür. Dann begann er nach jungen Männern Ausschau zu halten, die Lisa gefallen könnten und arrangierte Treffen, die wie zufällig wirkten.

Eine trauernde Frau im stillen Gebet auf dem Friedhof

Und plötzlich wurde alles schwarz.

"Bitte, wach auf!"

Mark erschrak. Wer sprach da?

"Du darfst mich nicht verlassen!"

Verlassen? Wen? Er war verwirrt.

"Wie könnte ich ohne dich leben?"

Dann spürte er einen sanften Druck an seiner Hand. Erst wollte er sie wegziehen, aber es gelang ihm nicht. Dann bemerkte er, dass es sich irgendwie gut anfühlte, liebevoll, warm, ehrlich.

"Oh Gott sei Dank! Mark, kannst du mich hören?"

Er konnte. Immer deutlicher trat die Stimme aus dem Hintergrund hervor. Langsam öffnete er seine Augen und sah, dass jemand neben ihm saß. Er konnte aber nicht erkennen wer, alles war furchtbar verschwommen.

"Ich habe mir solche Sorgen gemacht!", hörte er sie. Weinte die Person? Verwirrt wanderten seine Augen umher.

"Du fragst dich sicher, was geschehen ist. Du hattest einen furchtbaren Unfall. Als du über die Straße gehen wolltest, hat dich ein Auto angefahren. Du bist sehr schwer verletzt und lagst im Koma. Gleich, als ich davon erfuhr, kam ich her."

Mark fuhr zusammen. War das Lisa? Saß da Lisa neben ihm?

Seine Sicht wurde langsam klarer und er sah dieses wunderschöne Lächeln, das er so liebte.

Lisa sah Marks Blick an, dass er sich fragte, warum sie da war. Also erklärte sie ihm, dass sie immer wusste, wer sie beschützte und von wem die Bücher und Päckchen vor ihrer Tür waren. Sie mochte Mark immer.

Aber obwohl sie so offen mit anderen in Kontakt treten konnte - sobald sie an Mark dachte, schnürte es ihr fast die Kehle zu und sie brachte kein Wort mehr heraus. Da wurde ihr klar, dass sie ihn nicht nur mochte, sondern aufrichtig liebte. Doch war sie unfähig ihn zu fragen, ob er für sie auch so empfand. Und dann versuchte er, sie mit anderen Männern zusammenzubringen. Plötzlich fühlte sie sich so leer, so unglücklich. Alles erschien ihr düster. Und nun saß sie hier, hielt seine Hand und gestand ihm ihre Liebe - und er erwiderte sie.

Mark war so voller Glück - er lächelte. Er drückte sanft Lisas Hand, schloss seine Augen und öffnete sie nie wieder.

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