Comtesse liebt Aschenputtel
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Die gesamte Kutschenfahrt über war Alicia stark bedrückt und hatte ein dumpfes Gefühl im Bauch. Es fiel ihr schwer, ihre Traurigkeit vor den anderen Fahrgästen zu verbergen, aber sie wollte die mit niemandem teilen. Die Veränderung, die ihr bevorstand, zerbrach ihr das Herz. Sie musste eine Arbeit aufnehmen. Das lag an ihrer Stiefmutter, die sich wie ein Gift in ihre Familie geschlichen hat. Ihre Familie, das waren früher nur sie und ihr Vater. Nachdem ihre Mutter an einer schweren Grippe verstarb, gab es viele Jahre keine Frau in seinem Leben. Irgendwie hatte sich Alicia daran gewöhnt, das Nesthäkchen zu sein. Doch dann wurde alles anders.

Ihre Stiefmutter betrachtete es als oberste Pflicht, Alicia zu zeigen, dass es im Leben nicht nur Sonnenschein gab. Und dass sich nicht alles um sie drehte. Sie ließ sie zusammen mit der Magd den Abwasch erledigen und das Haus putzen. Doch das reichte ihr nicht. Vermutlich wollte sie Alicia loswerden, als sie auf die Idee kam, sie in eine Arbeit zu schicken, die hunderte Meilen entfernt von ihrem Zuhause lag. Als Zofe einer Adeligen sollte sie lernen, selbst für den eigenen Lebensunterhalt zu sorgen.

Das konnte sich Alicia nicht bietenlassen, denn Zofe kam einer Degradierung gleich. Kein vernünftiger Ehemann hätte eine Zofe geheiratet. Eine Lehrerin oder eine Verwaltungsbeamtin vielleicht, aber sicher keine Dienerin. Als sie ihren Vater alles erzählte, erwartete sie, dass er ein Machtwort sprach. Fassungslos stellte sie fest, dass er nicht mehr wirklich ihr Vater war, sondern ein Fremder, der nur die Worte seiner neuen Madame wie ein hirnloser Idiot wiederholte. Er redete immer in der Mehrzahl. Es war nicht seine eigene Entscheidung, sondern ihre gemeinsame. Angeblich sollten sich Väter das Beste für ihre Töchter wünschen, doch ihrer zwang sie wie ein kaltes Monster in einen Beruf, der weit unter dem Stand ihrer Familie lag. Oder vielmehr ihrer früheren Familie. Denn offensichtlich wurde sie gerade verstoßen.

Die Kutsche brachte sie in das Dorf, das zum Landgut der Comtesse Lucretia gehörte. Das Anwesen ihrer neuen Patronin lag im weiteren Umland der Hauptstadt. Von dem Augenblick, in dem sie das altehrwürdige Schloss betrat, begann für Alicia die härteste Zeit ihres Lebens.

Als sie am nächsten Morgen aufstehen musste, war es noch Nacht. Sogleich wurde sie bestraft, weil sie sich nach dem Wecken nochmals umdrehte, und musste am Ende ihres ersten Tages, der nur aus Putzen bestand, auch noch die Personalquartiere sauber machen. Ihr Zimmer teilte sie sich mit zwei anderen Mädchen, die schnell merkten, dass sie anders war und somit nicht zu ihnen gehörte. Hinter ihrem Rücken nannten sie Alicia die Hochwohlgeborene und gaben sich nur wenig Mühe, ihre Abneigung zu verbergen.

Nachdem Alicia mit den Abläufen und allen anfallenden Arbeiten im Haus vertraut war, kam sie schließlich in den persönlichen Dienst der Comtesse. Besser wurde das aber nicht. Zwar musste sie kaum noch Putzarbeiten erledigen und bekam auch ein Zimmer für sich alleine auf derselben Etage wie die Comtesse, aber dafür stieg der Druck. Alles hatte immer perfekt zu sein, und man musste teuflisch auf jede Kleinigkeit Acht geben, zum Beispiel ob etwas nach links oder nach rechts gefaltet wird. Alicia war allerdings von Natur aus unkonzentriert, was alles noch schwerer machte. Daran wollte sie aber nichts ändern. Ihre Begabungen lagen eher im Bereich der Tagträume und der Fantasie. Sie wollte Schriftstellerin werden oder Schauspielerin in einem Theater. Ganz sicher hatte sie nicht vor, als Zofe zu verenden.

Das erste richtige Gespräch mit der Comtesse führte sie im großen Paradezimmer, das besonders kostbar eingerichtet war.

„Erzählen Sie ruhig etwas von sich.“ sagte sie zu Alicia. „Sie kommen von so weit her. Was haben Sie die ganze Zeit über gemacht?“

Endlich fiel jemandem auf, dass sie nicht wie alle anderen Bediensteten war, dachte Alicia und fühlte sich geschmeichelt. Sofort begann sie frei heraus von sich zu erzählen, von den Aquarellbildern, die sie in ihrem alten Zuhause oft malte, und von ihren Fantasiegeschichten, die sie auf der Schreibmaschine zu Papier brachte, die sie von ihrem Vater einmal zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte.

„Fassen Sie doch eine Ihrer Geschichten für mich zusammen. Dabei könnten Sie mir aber vielleicht noch die Haare bürsten, wenn Sie möchten.“

„Aber natürlich. Sofort, Madame.“

„Um was ging es in Ihrer letzten Erzählung?“

„Um eine Prinzessin, die in einem Turm gefangen war. Nur ein Vampir, der sich in eine Fledermaus verwandeln kann, war in der Lage, sie in ihrer Isolation zu besuchen. Die beiden verliebten sich ineinander.“

„Und hat er sie auch in einen Vampir verwandelt?“

„Das ließ ich offen. Ich konnte mich nicht entscheiden, was ich selbst in der Lage gewollt hätte.“

„Aber Sie hätten ihn von Ihrem Blut trinken lassen?“ wollte die Comtesse wissen.

„Ja. Er braucht das ja zum Leben. Und es hätte mir auch sicher gefallen.“

„Sie haben sich doch nicht etwa in ihren Traumvampir verliebt?“

„Doch, ein wenig.“ gab Alicia zu und wurde rot.

In der nächsten Zeit verlangte die Comtesse immer häufiger nach Alicia. Es ging nicht nur um Dienste, wie sie üblicherweise Zofen verrichteten. Ein Raum diente als Büro für die Verwaltung des Gutes und des Vermögens. Dort stand eine Schreibmaschine, an der Alicia stundenlang saß und Briefe abtippte. Meist bekam sie die von der Comtesse persönlich diktiert. Doch immer häufiger durfte sie die auch in Eigenregie verfassen, da sie sich langsam auskannte in den Finanzen und den sonstigen Angelegenheiten des Hauses. Es gab einen Rechtsstreit um ein Wohnhaus in der Hauptstadt. Gelegentlich ging es auch um ein Gemälde, das vor hunderten Jahren aus dem Besitz der Familie verschwand und von dem Museum zurückgefordert wurde. Außerdem beantwortete Alicia all die Bittgesuche, wobei die Art der Antwort auf einer Liste stand. Wenn es um Geld ging, stand der gewährte Betrag gleich daneben. Im Grunde wurde sie von einer Zofe zur persönlichen Assistentin befördert. So kam es, dass Alicia nicht nur vertrauliche Tätigkeiten übernahm, sondern der Comtesse auch häufig bei einer Tasse Tee oder bei einem Spaziergang im Schlosspark Gesellschaft leistete.

„Versprochen.“ antwortete Alicia auf den Vorschlag der Comtesse, doch mal eine Kurzgeschichte zu schreiben. „Ich sollte Sie übrigens um genau fünf Uhr nachmittags an Ihre Hautlotion erinnern. Wollen wir ins Badezimmer gehen, damit ich sie auftragen kann, Madame?“

„Ja, bitte. Machen wir das. Und von nun an nennst du mich Lucretia, wenn wir alleine sind.“

Alicia und die Comtesse kamen sich immer näher. Sie kannten einander, wussten sofort, was die andere Person dachte und warum. Nur gab es da noch mehr zwischen ihnen. Im Raum mit dem Flügel, an dem Lucretia ihrem neuen Lieblingsschützling Klavierunterricht gab, kamen sie sich auch emotional näher, als sie zusammen eine ergreifende Liebesmelodie übten. Sehr bald lebten sie zusammen wie ein Liebespaar. Sie hatten zwar getrennte Schlafräume, aber meist übernachtete Alicia in den Gemächern der Comtesse. Anfangs verbargen sie ihre heimliche Beziehung vor dem übrigen Personal. Aber die Versuchung war zu groß, auf das Versteckspiel zu verzichten. So konnten sie ihre Liebe frei ausleben, Händchen haltend durch den Park spazieren oder sich ihr Frühstück ans Bett bringen lassen. Falls Gerüchte aufkommen sollten, das wusste die Comtesse natürlich, hatte das keine negativen Folgen. Sie war sowieso unverheiratet und genoss einen zweifelhaften Ruf. Außerdem gehörte sie dem Adel an und war deshalb über den moralischen Werten der bürgerlichen Kirchgänger erhaben. Sie konnte einfach tun und lassen, was sie wollte. Und niemand hatte die Macht, ihr vorzuschreiben, wie sie zu leben hatte.

Die Jahre vergingen. Es gab niemanden sonst in ihrer beider Leben. Um die Comtesse buhlten nur wenige feine Grafen oder reiche Industrielle. Manchmal kündigten sich welche an in Form einer Besuchsanfrage oder einer Einladung, aber Alicia verfasste auf Bitte der Comtesse meist die Absagen. Ab und zu ging das aus gewissen Gründen nicht. Wichtige Personen konnte man nicht so leicht vor den Kopf stoßen, aber auch diese Pflichttermine wurde immer schnell und kühl abgewickelt. Meist war Alicia sogar mit anwesend, denn Lucretia brachte ihr bei, wie sie sich auf dem Adelsparkett sicher bewegte und ihr Schützling lernte schnell. Adelig sein, das hatte sie irgendwie im Blut.

Trotzdem fehlte etwas. Immer war Alicia nur die Begleiterin, die weder einem Adelshaus entstammte, noch aus dem gehobenen Bürgertum kam. Genau genommen wurde sie von ihrer kleinbürgerlichen Familie verstoßen. Ihr Vater meldete sich zwar noch gelegentlich, und es fanden auch ein paar Besuche ihres alten Zuhauses statt, aber das war irgendwie komisch für alle Beteiligten. Deswegen verebbte der Kontakt. Was aber nicht nachließ, war das Gefühl, zweitklassig zu sein. Eigentlich konnte es Alicia egal sein. Sie lebte mit der Frau zusammen, die sie liebte. Dennoch störte es sie, nur das offene Geheimnis zu sein, die ehemalige Zofe, die von einer heimlichen Affäre zur Geliebten aufstieg. Sie musste immer wieder daran denken und gesellschaftliche Anlässe hasste sie. Am glücklichsten war sie, wenn sie ihre Zeit gemeinsam im Schloss verbrachten. Dann war sie nicht mehr diesen wissenden Blicken ausgesetzt, die ihre Privatsphäre verletzten.

Nach einem heißen Sommer, auf einer Feier im Schlosspark wurde sogar Shakespeares Sommernachtstraum aufgeführt, folgte ein nebliger und kühler Herbst. Mit ihm verdüsterte sich auch Alicias Stimmung. Ängste und leichte Depressionen kamen auf. Was, wenn Lucretia ihrer überdrüssig wurde? Weil Alicia vermutlich irgendwann alterte und nicht mehr hübsch genug für sie war. Oder was, wenn ihre Liebe irgendwann nicht mehr aufregend und romantisch war, sondern nur noch Routine und Gewohnheit? In einer Ehe wäre das vermutlich normal gewesen. Aber eine Liebesbeziehung, die letztendlich unverbindlich war, konnte wegen so etwas enden.

Eines späten Nachmittags sandte die Comtesse ihre neue Zofe nach Alicia, um sie in den Raum mit dem Flügel zu bitten. Ein paar Kerzen brannten, auch wenn es noch nicht richtig dunkel war. Bevor sie sich setzten, schenkte ihr Lucretia eine Rose, was zwar nicht ungewöhnlich war, wenn sie durch den Garten spazierten, aber hier in diesem Zimmer schon ein wenig unerwartet kam. Wobei sie sich hier das erste Mal küssten. Alicia wurde das Gefühl nicht los, dass etwas anders war und der gesamten Situation etwas Feierliches anhaftete. Und sie lag damit richtig.

„Wir leben schon seit einigen Jahren zusammen, als ob wir verheiratet wären.“ begann die Comtesse zu sprechen. „Doch wir sind es nicht. Auf dem Papier bist du nur meine Angestellte. Doch ich liebe dich und will nur mit dir zusammen sein. Ich will sonst niemanden heiraten. Deswegen frage ich dich, willst du meine Frau werden?“

„Ja!“ entfuhr es Alicia. „Ich will.“

Doch im selben Augenblick kamen Zweifel in ihr auf. Wie sollte das nur funktionieren? Weder Priester noch Standesbeamte durften zwei Frauen trauen. Keine Behörde konnte solch eine Ehe anerkennen, von der Kirche ganz zu schweigen.

„Mach dir keine Sorgen.“ beruhigte sie Lucretia, die in Alicias Gedanken wie in einem offenen Buch lesen konnte. „Ich habe alles geregelt. Es gibt natürlich Einschränkungen. Wir müssen auf eine große Hochzeit in Weiß verzichten, und ebenso auf Gäste. Das Ganze würde jetzt sofort stattfinden. Bist du dazu trotzdem bereit?“

Ein quietschender Jubelausruf kam über Alicias Lippen. Sofort war noch viel besser als auch nur einen Tag darauf zu warten. Ihre Augen füllten sich mit Freudentränen.

„Ich werte das als ja.“

Alicia nickte ein paar Mal und dann küssten sie sich. Etwas später löste sich Lucretia von ihr und steckte ihr einen Ring an den Finger. Natürlich war er wunderschön und in Alicias Augen bildeten sich noch mehr Tränen. Sie betrachtete ihn eine Weile und glaubte, darin einen roten Tropfen zu erkennen.

„Er gehörte meiner Urgroßmutter. Aber wir müssen los, wenn wir alles noch bis Morgenanbruch schaffen wollen.“

„Bis zum Morgen?“ fragte die junge Frau verwundert. „Wohin gehen wir denn?“

„In den Keller.“

Nebeneinander schritten sie die breite Treppe in das Untergeschoss hinab. Alicia vertraute ihrer Verlobten. Unten angekommen ging es durch einen Gang, der nur von wenigen Kerzen an den Wänden beleuchtet wurde. Am Ende befand sich eine Tür, die Lucretia aufsperrte. Dahinter wartete eine kleine unterirdische Kapelle, nur dass die religiösen Symbole düster waren und Biester mit spitzen Zähnen oder Hörnern zeigten.

„Was ist das?“ Alicia wurde etwas mulmig.

„Der Raum, in dem wir uns jetzt vermählen.“

„Ich verstehe nicht. Warum ausgerechnet hier?“

„Ich muss dir etwas erzählen. Die ganze Wahrheit. Ich bin kein Mensch, wie alle anderen. Ich bin ein Vampir.“

Comtesse Vampirbissl
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Zuerst hielt Alicia das für einen romantischen Scherz. Aber all diese Steinskulpturen und Malereien in dem unterirdischen Raum deuten darauf hin, dass mehr hinter der Aussage steckte. Lucretia öffnete ihren Mund und entblößte ihre Fangzähne. Eigentlich hätte Alicia jetzt einen Schreck kriegen müssen oder Angst. Doch sie wollte von diesen Zähnen gebissen werden. Sie wünschte sich, dass Lucretia nie wieder von etwas anderem kostete, als von ihr.

„Wenn du möchtest, kannst du von meinem Blut trinken.“ bot ihr Alicia an. „Ich liebe dich. Auch als Vampir.“

„Ich liebe dich auch. Als Vampir.“ sagte Lucretia und strahlte vor Freude. „Mir fällt ein Stein vom Herzen, jetzt wo du endlich die Wahrheit weißt. Aber ich habe dich nicht deswegen hierher gebracht. Ich will ein Leben mit dir verbringen. Ein sehr, sehr langes Leben. Ich habe dich hierher gebracht, um dich in einen Vampir zu verwandeln. Das ist die sofortige Hochzeit, von der ich oben sprach.“

Alicia überlegte kurz. Natürlich wollte sie das. Das bedeutete, dass sie theoretisch bis ans Ende der Zeit zusammen sein konnten. Trotzdem fühlte sie sich ein wenig überrumpelt. Zu einer Untoten werden, das war etwas, das sich nicht mehr rückgängig machen ließ. Ein endgültiger Schritt.

„Wenn du diesen Weg wählst, gibt es kein zurück mehr. Wir werden bestimmt lange miteinander glücklich sein. Doch es könnte der Tag kommen, an dem wir Freiräume brauchen, an dem wir alleine leben und jagen wollen oder sogar unsere eigene Existenz hassen.“

„Was, wenn ich diesen Weg nicht gehen möchte?“ wollte Alicia eher aus Neugier und als Test wissen, denn sie hatte sich bereits entschieden.

„Dann fand dieses Gespräch niemals statt. Ich habe die Macht, dir diese Erinnerung zu nehmen. Wir wären dann nie in diesem Keller gewesen.“

„Und vermutlich hätten wir uns dann niemals miteinander verlobt.“ mutmaßte Alicia.

„Nein. Das hätten wir dann nicht. Dein Leben würde weitergehen wie vorher. Es gäbe zwar noch immer uns beide, aber wir würden uns unweigerlich trennen, irgendwann. Du würdest älter werden, vielleicht eine Familie gründen oder dich in eine andere Frau verlieben.“

„Das will ich aber nicht. Ich will nur dich lieben. Für immer. Oder so lange es unser Schicksal erlaubt.“

„Ich habe gehofft, dass du dich so entscheidest.“

„Wie funktioniert das? Sich in einen Vampir verwandeln.“

„Ich werde dich beißen und so viel Blut von dir trinken, bis du an der Schwelle des Todes stehst. Dann gebe ich dir ein Teil des Blutes zurück, allerdings welches von mir.“

Alicia trat ganz nah an Lucretia heran und bot Lucretia ihren Hals an.

„Verwandel mich.“

Ihre Verlobte biss ihr in den Hals und trank. Sie genoss das warme Blut, das so unendlich gut schmeckte, so viel besser als von all ihren Opfern, von denen sie sich nur ernähren wollte, und die sie meist hypnotisiert und bewusstlos auf der Erde liegen ließ. Auch Alicia sank zu Boden, doch wurde sie von Lucretia sanft aufgefangen und hingelegt. Wenn sie noch jünger gewesen wäre, hätte sie sich in dieser Lage womöglich nicht beherrschen können und Alicia einfach leergesaugt.

Doch die Vampirin lebte bereits mehr als fünfhundert Jahre. Sie passte den Augenblick genau ab und biss dann in ihr eigenes Handgelenk, um aus dieser Wunde Blut in Alicias Mund fließen zu lassen. Erst einmal schien die rote Flüssigkeit keine Wirkung zu haben. Doch dann erwachte sie, nahm das Blut in sich auf und wollte sogleich mehr. Sie klammerte sich an Lucretias Unterarm und konnte kaum noch aufhören. Schließlich musste ihre Verlobte die Hand wegziehen. Alicia hatte mehr als genug. Ihre Eckzähne schienen bereits ein wenig gewachsen zu sein, und ihr Blick strahlte weniger Unschuld aus, dafür mehr Leidenschaft und Erfahrung.

Alicias gesamte Umgebung wirkte anders, als noch zuvor. Sie hörte Luftpartikel aufeinanderprallen und eine wunderschöne Musik erzeugen. Sie fühlte sich stark und voll Energie. Alicia wurde bewusst, dass sie gegen die Wand gelehnt auf dem Boden lag, in den Armen ihrer Ehefrau, die sie noch nie so schön wahrgenommen hatte wie in diesem Augenblick, in dem sie von übernatürlichen Kräften getraut wurden.

„Willkommen zurück.“ hauchte Lucretia in ihr Ohr und lächelte sie glücklich an.

Vor ihnen lag eine Ewigkeit. Wenn sie das wollten. Und wenn nicht, konnten sie trotzdem so lange miteinander glücklich sein, wie sie es für richtig hielten. Beide sind dankbar dafür, dass von all den Möglichkeiten, die ihr unendliches Leben für sie bereithielt, genau das Schicksal eingetreten ist, das sie zusammenbrachte.