Vampirvilla
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Er war wunderschön, und sie konnte ihren Blick nicht von ihm abwenden. Sie sehnte sich danach, mit ihren zitternden Fingern über seine Haut zu streichen, aber immer wenn sie ihre blasse Hand ausstreckte, fühlte sie nur die raue Oberfläche der Leinwand. Das Bild trug keine Signatur; niemand hatte ihr sagen können, wer der Maler gewesen war. Im Dorf munkelte man, es handle sich um ein Selbstbildnis, das der Erbauer des Hauses von sich angefertigt hatte. Er war ein Landadeliger, der im Verdacht stand, Bluttrinker zu sein, ein Nachtgeborener, ein Vampir. Wenn sie das Bild betrachtete und dabei an die Gruselgeschichten dachte, überlief sie ein wohliger Schauer.

Eigentlich hätte sie sich eine so prächtige Villa niemals leisten können, aber der Preis war unerwartet niedrig gewesen und der seltsam nervöse Verwalter schien heilfroh, endlich einen Interessenten gefunden zu haben. Gleich bei der ersten Besichtigung war ihr klar geworden, warum niemand das Anwesen hatte kaufen wollen. Einsam auf einem Hügel gelegen wirkte es wie eine unheimliche Gruft des nahen Dorffriedhofs. Sie war schon entschlossen, das Angebot auszuschlagen, als ihr Blick auf das Bildnis des Mannes über dem Kamin in der großen Halle fiel. In diesem Augenblick zerbröckelte all ihre Entschlossenheit.

In der ersten Nacht nach ihrem Einzug schlief sie unruhig. Immer wieder sah sie den geheimnisvollen Mann, der aus dem Gemälde auf sie herabblickte. In seinen Augen lag eine stumme Aufforderung. Als sie dem Drängen seines Blickes kaum mehr standhalten konnte, erwachte sie. Das Fenster stand weit offen, der dünne Vorhang flatterte im Wind. Sie hatte in der eisigen Winterkälte gelegen. Kein Wunder, dass ihr Hals schmerzte. Gleich morgen würde sie den Verwalter wegen des Fensters anrufen. Als sie die beschlagenen Glasflügel schließen wollte, sah sie im fahlen Mondlicht eine Schar seltsamer Vögel aufsteigen. Dann fiel ihr Blick auf eine schlanke, menschliche Gestalt, die zwischen den nahen Friedhofssteinen umherging und etwas seltsam Vertrautes an sich hatte.

Als sie hastig die breiten Stufen der Treppe hinuntereilte, sah sie gleich, dass in der großen Halle etwas nicht stimmte. Der Raum lag nicht im Dunkeln, sondern war in unruhiges Licht getaucht. Das Feuer im Kamin brannte wieder! Sie war sich sicher, dass sie es gelöscht hatte. Das Bild! Es war - verschwunden? Nein, Rahmen und Leinwand befanden sich noch an ihrem Platz, aber der junge Mann mit dem durchdringenden Blick war fort. Ein tiefer Schmerz über den Verlust befiel sie. Plötzlich kam ihr die einsame Gestalt auf dem Friedhof in den Sinn, und wider jede Vernunft rannte sie nach draußen. Mit bloßen Füßen hastete sie durch den Schnee, jeder Sinn für Kälte war ihr verloren gegangen.

Er stand einfach da und betrachtete sie. Seine Erscheinung wirkte altmodisch, doch es war eine Frische an ihm, die sie anzog. Dann begann er, zu sprechen. Seine Stimme klang sanft wie der Wind, der durch ein Glasperlenspiel streift. Sie achtete kaum darauf, was er sagte, sog nur den Klang seiner Stimme ein. Seine Worte lullten sie ein. Er lächelte sie an, entblößte seine Zähne. Weiß, lang und spitz. Unwillkürlich machte sie einen Schritt zurück. Ihr Fuß glitt aus auf dem nassen Schnee, sie fand keinen Halt mehr, der Boden schien unter ihr wegzubrechen. Alles drehte sich, verlor an Kontur, doch selbst im Fallen konnte sie ihren Blick nicht von ihm abwenden. Da streckte er die Hand aus und hielt sie fest.