Vampirbar
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Aus dem Fenster ihres Zugabteils blickt Giselle auf eine idyllische Landschaft, die von der warmen Nachmittagssonne beschienen wird. Der Zug hat gerade die Kuppe eines Hügels erreicht. Bis zum Horizont erstrecken sich unzählige Felder in verschiedenen Farben, von goldgelb bis grün. Dazwischen liegen verstreut einzelne Häuser und drei Dörfer, die ineinander übergehen. Dass es drei sind, lässt sich an den barocken Kirchtürmen erkennen. Es war bisher eine angenehme Bahnfahrt. Der Zug kam schnell voran und niemand saß an Giselles Tisch. So konnte sie sich die ganze Zeit in Ruhe auf ihre Arbeit vorbereiten. Dazu wird sie wohl noch eine ganze Weile Gelegenheit haben, denn die Dampflok hat gewaltig an Schwung verloren. Nur langsam quält sich der schwache Regionalzug den Berg hoch. Ihr Ziel ist ein etwas abgelegener Ort im Gebirge. Von dem geht es zu einem vermeintlichen Vampirschloss weiter. Dort soll sie ihren Gastgeber über Vampirismus interviewen und, wenn er es erlaubt, in dessen Familienbibliothek recherchieren.

Eigentlich ärgert es Giselle, so etwas albernes machen zu müssen. Es gibt keine Vampire. Sie würde lieber über Vorgänge im Parlament schreiben oder notfalls über den Klatsch am Hof. Doch ihre Zeitung befindet sich in Finanznöten und die Leute sind momentan verrückt nach Vampirgeschichten, seitdem ein gewisser Bram Stoker diesen Bestseller Dracula geschrieben hat. Vor ein paar Wochen kam Giselle endlich dazu, das Buch zu lesen, und fand es zu ihrer Überraschung gut. Sie war erkältet, hatte Fieber und befand sich in der richtigen Stimmung für so eine Unterhaltungslektüre. Einige Male hat sie davon geträumt. Einmal wachte sie von dem Stechen spitzer Zähne auf, die sich im Traum in ihren Hals gruben. Ein anderes Mal war sie selbst ein Vampir und genoss die Macht, die sie über Andere hatte.

Das Interview wird sie nicht mit dem jahrhundertealten Vlad Tepes führen, sondern mit einem Grafen von Wolfsburg-Romscheid. Sein Adelsgeschlecht ist ein wenig in Vergessenheit geraten. Ihm haftet der Mythos der Unsterblichkeit an. Die Familienmitglieder, die in den meisten Fällen bereits in jungen Jahren den Tod fanden, sollen danach angeblich als Vampire weiterleben.

"Ich sage Ihnen, was Dracula in Transsilvanien ist, sind die bei uns" ermunterte sie der Chefredakteur vor einer Weile, in diese Richtung zu recherchieren.

Auch wenn sich Giselle dabei blöd vorkam, schrieb sie die Adresse der Familie an, und erkundigte sich, ob sie vielleicht jemandem ein paar Fragen stellen durfte zu dem Thema, gerne auch rein auf dem Briefweg. Kurz darauf antwortete der Graf und lud sie auf sein Schloss ein. Er stellte Interviews in Aussicht und wollte ihr auch das Anwesen zeigen. Der Brief war sehr zuvorkommend geschrieben, aber vermutlich braucht er einfach nur Geld und möchte von der Dracula Mode profitieren. Auch weil seine Familie bereits mit Vampirismus in Verbindung gebracht wurde, als dieses Buch noch nicht einmal existierte.

Es ist schon früher Abend, als sie der Kutscher des Schlosses vom Bahnhof abholt. Ein paar Sommerfrischler steigen ebenfalls aus dem Zug. Bestimmt quartieren sie sich in dem Gasthof zur Post ein, der gegenüber des Bahnhofsgebäudes liegt. Der Bedienstete lädt ihr Gepäck auf die Kutsche und fährt los, ohne viel Zeit zu verlieren. Die rötlich orange Sonne geht gerade hinter einem Bergkamm unter. Nicht viel später kommen sie an ihrem Ziel an, dem Burghof.

Während der Kutscher Giselles Koffer ablädt, öffnet sich eine große Doppeltüre und ein Mann mit längeren braunen Haaren kommt ihr entgegen. Es ist bestimmt der Graf.

"Es freut mich sehr, dass Sie es wie geplant geschafft haben. War Ihre Reise angenehm?"

"Ja, es war eine schöne Fahrt. Die Aussicht war wunderbar. Danke, dass Sie mir eine Kutsche geschickt haben."

"Das ist doch selbstverständlich. Arthur hätte sowieso nichts Wichtiges zu tun gehabt."

Er sieht recht jung aus für einen Grafen. Keine grauen Schläfen oder Ähnliches, stattdessen längeres braunes Haar und eine verwegene Ausstrahlung. Man könnte ihn zwischen dreißig und vierzig halten. Bestimmt ergibt sich noch eine gute Gelegenheit, ihn nach seinem genauen Alter zu fragen.

"Und Sie haben vor, einen Bericht über Vampire zu schreiben?" kommt der Graf gleich zum Thema.

"Ja, deswegen bin ich hier. Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen zu den Geschichten über Vampirismus rund um dieses Schloss und Ihre Familie." sagt Giselle und hält inne. Nicht dass sie den Grafen beleidigt hat. "Ich meine, ich glaube nicht an Vampire, oder dass es in Ihrer Familie welche gab. Es geht nur um die Sagen und Erzählungen."

"Und das hat nichts mit diesem neuen Roman zu tun, Dracula?"

"Doch, eigentlich schon." Giselle wird rot. "Es ist einfach ein Modethema und viele Leute interessiert seitdem alles, was damit zu tun hat."

"Ihr Gepäck wird gerade auf Ihr Zimmer gebracht. Ich werde Sie da hin begleiten. Wenn Sie möchten, können wir uns dann in einer Stunde zum Abendessen treffen."

Während des Diners sitzen sie sich an einem großen Tisch gegenüber, einige Meter voneinander entfernt. Der Graf scheint keinen großen Appetit zu haben. Er nascht gelegentlich einen Happen Camembert oder eine Olive. Giselle hat da schon größeren Hunger. Eine Reise liegt hinter ihr.

Etwas später am Kamin, abends wird es bereits etwas kühl, bricht das Eis ein wenig.

"Meiner Familie hatte schon immer einen okkulten Ruf. Es gab Zeiten, da hielt man uns für Schwarzmagier und einige von uns starben sogar den Tod auf dem Scheiterhaufen oder verendeten in den Verhörkammern der Inquisition."

"Ja, das Mittelalter war schon grausam."

"Nein, im Mittelalter florierte mein Haus. Wir hatten Burgen, eine Armee und große Ländereien. Ich spreche von der Renaissance, das Zeitalter der Hexenverbrennungen, Giftmischer und Intrigen."

"Es heißt, die Wolfsburg-Romscheids ..."

"Es waren nur die Wolfsburger." berichtigt der Graf. "Die Romscheids kamen erst vor hundert Jahren hinzu, durch meine Urgroßmutter Prinzessin Mathilde, der Tochter des Königs."

Langsam wird es Giselle peinlich. Vielleicht hätte sie sich mehr mit der Geschichte der Familie beschäftigen sollen und weniger mit den dunklen Gerüchten um sie herum. Sie versucht, das mit einem Scherz zu überspielen.

"Dann hätten sie ja vielleicht Anspruch auf den Thron."

"Haben Sie Ihre Hausaufgaben nicht gemacht?" lacht der Graf. "Ich komme so ungefähr an hundertster Stelle. Da müssten schon sehr viele Kronprinzen, Comtessen und Herzöge unerwartet ihr Leben lassen, damit ich an die Reihe komme."

"Nun, für einen Vampir müsste das doch eine lösbare Aufgabe sein." scherzt Giselle weiter.

"Ja, das muss ich unbedingt machen. Und im Anschluss werde ich ein Königreich der Dunkelheit gründen, das von Vampiren beherrscht wird. Was für eine großartige Idee Sie da haben. Für diese strategische Beratung bin ich Ihnen wirklich zu Dank verpflichtet."

"Sie könnten mich ja dann zur Prinzessin ernennen."

"Ich werde sie gleich zu meiner Königin machen."

Beide lachen ein wenig verkrampft, aber die Luft aus dem Flirt ist raus. Der Graf hat den Bogen überspannt mit seinen vorschnellen Heiratsplänen. Sie gehen dann auch zu historischen Ereignissen über und Giselle erhält erneut Geschichtsnachhilfe. Irgendwann wird sie müde und wünscht sich, zu Bett zu gehen. Kein Wunder, Geschichte fand sie schon immer zum Einschlafen.

Am nächsten Tag sehen sie sich gemeinsam das Anwesen an. Der Graf trägt eine Art Sonnenbrille. Er ist äußerst lichtempfindlich, eine Eigenschaft, die in seiner Familie häufig vorkommen soll.

"Wo ist Ihre Familie eigentlich?" wird Giselle neugierig, auch weil es Teil ihres Berufes ist.

"Über die möchte ich lieber nicht sprechen." schießt es aus dem Grafen, als ob die Frage einen alten Schmerz zurückgeholt hätte.

"Tut mir leid." entschuldigt sich Giselle.

"Ist nicht Ihre Schuld. Ein Großteil ist tot und meine verbliebenen beiden Verwandten treiben sich irgendwo in der Weltgeschichte herum."

"Dann bereisen die beiden gemeinsam die Welt?"

"So war es geplant, aber sie haben sich in New York zerstritten. Oder war es New Orleans? Nun gehen sie jedenfalls getrennte Wege."

Das Schloss ist eine halbe Burg. An ihrer Rückseite geht es hinab in eine tiefe und felsige Schlucht. In früheren Zeiten, als es noch keine Kanonen gab, wäre sie wohl nur schwer einzunehmen gewesen. Vom Reitstall ist Giselle tief beeindruckt. Als Mädchen ist sie ein paar Jahre lang geritten, unterhielt aber kein eigenes Pferd. Irgendwann ließ die Begeisterung nach und als ihr Studium begann geriet das Reiten völlig in Vergessenheit.

"Das verlernt man nicht. Das ist wie Fahrradfahren." ermutigt sie der Graf.

"Fahrräder?" wundert sich Giselle.

"Diese komischen Fortbewegungsgeräte mit den großen Reifen. Nicht so wichtig. Lassen Sie uns ausreiten, dann kann ich Ihnen noch mehr von meinen Ländereien zeigen. Und danach kehren wir in den Forsthof ein. Die haben die besten Forellen in der ganzen Gegend."

Ein Vampir kann der Graf schon mal nicht sein, überlegt Giselle. Sie reiten gerade bei helllichtem Tag durch seine Ländereien und er nimmt Nahrung zu sich. Auch wenn er nie einen großen Appetit zu haben scheint und ständig diese Sonnenschutzbrille trägt.

"Sind die eine Mode? Oder ist Ihnen das Tageslicht nur zu hell, weil Sie ein Vampir sind?"

"Letzteres." ruft ihr der Graf zu und gibt seinem Pferd die Sporen. Ich will Ihnen etwas zeigen."

Es ist früher Nachmittag, als der Graf und Giselle den alten Friedhof erreichen. Er hat eine kleine Kapelle. Durch die offene Pforte ist zu sehen, dass ein paar Kerzen brennen.

"Warum liegt der so abseits?" will Giselle wissen.

"Es mag unserem Ruf widersprechen, aber meine Familie hat es noch nie geschätzt, in der Nähe von Grüften zu wohnen. Was unter der Erde liegt, sollte man ruhen lassen, und nicht ständig vor seiner Nase haben."

"Hier liegen also all ihre Vorfahren. Ob sie es wohl in Ordnung fänden, dass Sie mich zur Königin unseres Vampirstaates machen, wo ich doch nicht mal Ihrer Spezies angehöre." greift Giselle das Gedankenspiel von neulich wieder auf, in dem der Graf den Königsthron beansprucht und eine Ära der Untoten einläutet. Sie sieht den Grafen lächelnd an. Erneut fällt ihr auf, dass er eigentlich ganz gut aussieht.

"Sollte ich mir wirklich den Thron einverleiben und ein Reich der Vampire ausrufen, wäre ich sowieso der Liebling von allen. Da würde niemand wegen solcher Kleinigkeiten über meine Königin herziehen."

"So, so. Du versprichst den Damen schon, sie zur Königin zu machen, um sie zu beeindrucken." ein langhaariger Mann in altmodischer Kleidung kommt hinter einem Grufteingang hervor. "Glauben Sie ihm kein Wort."

Durch die plötzliche Anwesenheit dieses Mannes hat Giselle einen Schrecken bekommen. Sie kann die bedrohlichen Schwingungen fast fühlen, die von ihm ausgehen.

"Darf ich vorstellen, mein Onkel Sebastian. Er taucht gerne überraschend auf, wenn man es nicht erwartet."

Eigentlich dachte sie, es gäbe nur den Grafen und zwei Geschwister. Vom Aussehen könnten die beiden Männer Brüder sein. Sie wirken auch gleich alt auf Giselle. Wenn nicht die Garderobe wäre, die man vor mindestens hundert Jahren getragen hat.

"Mein Neffe tut gerne so, als ob es mich nicht gäbe, und verschweigt auch vor Anderen meine Existenz."

"Manche Dinge sollten man besser ruhen lassen, anstatt sie ständig ans Licht zu holen." sagt der Graf und sieht dabei seinen Onkel mit einem scharfen Blick an. Dann wendet er sich an Giselle. "Ich wollte Ihnen am Friedhof noch ein paar Geschichten erzählen, aber das können wir auch etwas später nachholen. Lassen Sie uns zurückreiten."

Später im Schloss sitzen Giselle und der Graf bei Milchkaffee und Sachertorte beisammen. Er hält einen Vortrag über die Familiengeschichte und wie sich seine Ahnen von Ordensrittern zu Händlern und dann zu Investoren weiterentwickelt haben. Eigentlich ein langweiliges Thema und für ihren Artikel nur zum Teil brauchbar. Der soll schließlich um Vampire gehen. Das Meiste hätte sie auch in jeder Hochschule mit einer historischen Fakultät erfahren können. Was sie aber so fasziniert, an dem Gespräch, hier sitzt sie an der Quelle und erfährt es vom Grafen Wolfsburg-Romscheid persönlich. Sie hängt regelrecht an seinen Lippen und muss sich ermahnen, den ursprünglichen Zweck der Reise nicht zu vergessen. Bestimmt hat er sie mit seinen Vampirkräften hypnotisiert, überlegt Giselle. So fühlt sie sich jedenfalls in seiner Gesellschaft.

"Wie ist Ihre Familie eigentlich zu diesem Ruf gekommen? Sie wissen schon, die Sache mit dem Vampirismus und der schwarzen Magie."

"Von welcher schwarzen Magie sprechen Sie?"

"Na, die vermutlich nötig ist, um dem Tod Leben einzuhauchen. Das, was sich an Gerüchten und Geschichten über die letzten Jahrhunderte angesammelt hat."

"Das entspringt nur dem Aberglauben von Bauern und Dienstboten. Kam eine Grippewelle auf, war es der Teufel. Eine schwache Ernte wurde als Strafe Gottes betrachtet. Sobald mal ein Kind verschwand oder eine junge Frau von einem nächtliche Spaziergang nicht wiederkehrte, wurden sie von hungrigen Vampiren entführt."

"Ich verstehe." schmunzelt Giselle. Natürlich, darauf hätte sie eigentlich selbst kommen können. Dabei fällt ihr ein Grammophon auf, dass auf einem kleinen Mahagonitisch steht.

"Oh, haben Sie auch Schallplatten für den?"

"Natürlich. Was wollen Sie hören?"

"Egal. Was auch immer Sie mir vorspielen wollen."

Der Graf legt eine Platte auf das Abspielgerät. Ein Orchester spielt einen Walzer an. Es ist diese moderne Operette von Johann Strauss, Wiener Blut.

"Darf ich bitten?" der Graf hält ihr seine Hand hin.

Jetzt ist Giselle doch ein wenig überrascht. Und aufgeregt. Sie hat schon mehrere Jahre nicht getanzt, bis auf den Journalistenball zu fortgeschrittener Stunde. Aber das war mit ihrem Vorgesetzten und sie war angetrunken. Da musste sie keine gute Figur abgeben. Gerade hat sie aber das Gefühl, sie könnte sich blamieren. Beide tanzen sie harmonisch über den Parkett des alten Schlosses. Giselle lässt den Grafen führen und versinkt ganz in seinen Armen und in seinen Augen. Doch auf einmal glaubt sie eine Frau am Türrahmen zu sehen. Kurz darauf ist sie verschwunden. Sie hatte rotblond gewelltes Haar und trug eine enge Hose, die in Reiterstiefeln steckte. Eigentlich will sie ihren Tanzpartner davon erzählen und nach einer solchen Person fragen, aber nicht, dass es nur eine Einbildung war, und er sie für geisteskrank hält. Während sie überlegt, hört sie ein grusliges Flüstern links hinter ihr. Mit einem Schwung übernimmt sie die Führung und dreht sich gemeinsam mit dem Grafen in diese Richtung, aber da ist nichts.

Nachdem sie eine gute Weile getanzt haben, setzt Giselle das Interview mit ihrem Vampirgrafen am Kamin fort. Die Sensationsjournalistin in ihr wünscht sich nun ein bisschen mehr, über das sie schreiben kann, als nur historische Fakten.

"Warum führen wir dieses Interview eigentlich?" will sie vom Grafen wissen. "Was bezwecken Sie damit."

"Ich will ehrlich zu Ihnen sein. Wegen dieser Vampirmode habe ich gehofft, ein wenig Aufmerksamkeit auf das Schloss und die Ortschaft zu richten. Über ein paar zusätzliche Sommerfrischler und Wintergäste würde sich die gesamte Ferienbranche hier sehr freuen."

"Wenn das ihr Ziel ist, müssen Sie Neugierde wecken. Lassen Sie den Vampir in sich heraus. Erzählen Sie den Leuten, was sie hören wollen."

Offenbar hat der Schlossherr sehr gut verstanden. Es folgt ein Schauermärchen nach dem anderen und Giselle überlegt, eine kleine Reihe zu verfassen. Die einäugige Hexen auf dem Scheiterhaufen verdient eine eigene kleine Kurzgeschichte. Was sie aber am meisten berührte war die Liebe zwischen einem Grafen der Familie und seiner Verlobten. Vor ihrer Hochzeit wurde sie von der Inquisition entführt. Sie wehrte sich verbissen, kam aber gegen die Überzahl an Soldaten nicht an. Der damalige Graf starb wenige Monate später. Kurz nach seiner Beerdigung wurde der Inquisitor und der Rest seiner Leibgarde tot aufgefunden.

"Diese Inquisitoren haben es verdient." regt sich Giselle auf. "Was dachten sich diese Monster eigentlich, Leute für Hexen oder Teufelsanbeter zu erklären."

"Sie finden es also richtig, dass die Inquisitoren ebenfalls bestraft wurden?" fragt der Graf. "Selbst wenn sich der Rächende dafür in einen Vampir verwandelt hätte."

"Ja, natürlich." Giselle könnte sich in Rage reden. Wegen solcher Ungerechtigkeiten ist sie eigentlich Journalistin geworden. "Wenn ich könnte, würde mich selbst in einen verwandeln, in so einer Lage."

Dann küssen sie sich. Giselle hat das Gefühl, den Grafen schon seit Ewigkeiten zu kennen. Aber das soll vorkommen, wenn man sich frisch verliebt. Etwas sagt ihr, dass sich ein Schicksal erfüllt. Als ob sie all das schon mal geträumt hätte.

Applaus reißt sie aus ihrer Wolke Sieben. Am Eingang des Raumes stehen ein Mann und eine junge Frau.

"Was für eine erfreuliche Überraschung." sagt der Mann. Da kommt man über den Atlantik nach Hause gereist und ertappt seinen älteren Bruder Draco inflagranti bei ..."

"Dabei, eine angenehme Bekanntschaft zu vertiefen." kommt ihm der Graf zuvor. "Das ist Giselle. Sie schreibt eine Reportage über Vampire. Das sind mein Bruder Max und meine Schwester Eva, beide sind gerade unerwartet aus New York zurückgekehrt, denke ich."

"Es war New Orleans. Wobei, wir sind über New York zurückgereist, aber wir haben die ganze Zeit in New Orleans gelebt. Das ist nun vorbei. Erst einmal geht es nirgendwo hin."

Die beiden Geschwister des Grafen setzen sich dazu und berichten von ihrer Reise. Das New Orleans, von dem die beiden berichten, ist Giselle neu. Sie hat zwar schon mal etwas von diesem Voodoo gehört, hätte aber nie gedacht, dass es etwas Wirkliches ist. Max und Eva gerieten tief in die Kreise der Voodoo Gläubigen und nahmen selbst an Rituale teil. Vor ihren Augen wurde ein Toter zum Leben erweckt und wandelte eine ganze Stunde herum, bevor er endgültig zusammenbrach.

"Sie brachten uns ein paar ihrer Voodoo Tricks bei." berichtet Eva. "Die funktionieren, es ist unglaublich. Ich habe wirklich gezaubert und mich mindestens fünf Jahre jünger gemacht."

Mit skeptischem Blick begutachtet der Graf seine Schwester. "Als ob du das nötig hättest. Nicht dass du nochmal zur Schule musst."

"Sie verstehen dass doch sicher, als Frau." wendet sich Eva an Giselle. "Den Wunsch, nicht mehr zu altern und für immer jung auszusehen."

"Ich könnte dem niemals widerstehen." schießt es aus Giselle. "Egal ob mit Voodoomagie oder mit was auch immer. Die ewige Jugend finde ich auch an Vampiren so faszinierend."

"Irgendwann drehte sich alles." erzählt Max, nachdem Draco wissen will, wie es weiterging in New Orleans. "Einigen Leuten dort störte es, dass wir so tiefe Einblicke in ihre Geheimnisse erhielten. Die Menschen vertrauen uns zwar von Natur aus. Doch offenbar nicht alle. Sie hatten beschlossen, auch uns als Leichen wiederauferstehen zu lassen."

"Sie haben uns mit einem Gift betäubt und begraben. Das war wirklich amüsant." erinnert sich Eva. "Die haben Augen gemacht, als sie uns wieder ausbuddelten und keine willenlosen Zombies vorfanden, sondern ..."

"Sondern uns." lacht Max mit einem vielsagenden, etwas hämischen Unterton und blickt gleichzeitig undurchschaubar auf Giselle.

Ganz faszinieret von den Voodoo Abenteuern der beiden Überseerrückkehrer nimmt sich Giselle vor, auch darüber mal eine Reihe zu schreiben. Das ist ja noch aufregender als Vampire. Während die Blutsauger nur Schauergestalten aus einem Fantasieroman sind, scheint diese karibische oder afrikanische Magie ein reales Phänomen zu sein.

Im Laufe des Abends tanzen sie irgendwann Walzer. Max ist objektiv betrachtet ein noch besserer Tänzer als Draco, nur dass es Giselle mit dem Grafen viel mehr Spaß macht. Dafür kann sie Max beim Tanzen über diese Voodoo Künste ausquetschen. Auch mit Eva versteht sich Giselle sehr gut. Die verspricht ihr, noch ein karibisches Amulett zu schenken, das Zauberkräfte erwecken soll. Später am Tisch erzählt Giselle von ihrer Reportage über Vampire, was alle Anwesenden amüsiert. Auch die Geschwister kennen das Dracula Buch. Sie haben sogar ein paar Anekdoten für die junge Journalistin, die sie über die Familie in ihrem Artikel bringen kann und einigen Lesern sicherlich Gruselschauer bereiten werden. Irgendwann findet aber die Gesellschaft ein Ende und man wünsche sich eine gute Nacht.

Gerade hat sich Giselle zu Bett gelegt, da klopft es an ihrer Zimmertüre. Sie hat nicht abgeschlossen.

"Moment." ruft sie, um sich noch einen Morgenmantel anzuziehen.

Vermutlich ist es der Graf, der den Kuss fortsetzen möchte, bevor seine Geschwister kamen. Doch nur Eva, seine Schwester, steht an der Türe. Die findet Giselle ja auch ganz nett, aber küssen würde sie lieber ihren Bruder Draco.

"Wenn du ein Abenteuer suchst und wissen willst, was es mit den Vampiren hier wirklich auf sich hat, dann komm mit mir in den Keller. Da bekommst du deine Geschichte."

Eigentlich hat Giselle ihre Story ja schon, und wenn sie ehrlich ist, würde sie jetzt lieber weiter mit dem Grafen knutschen, anstatt seiner Schwester in einen dunklen Keller zu folgen. Aber schließlich ist sie Journalistin und gerade am Recherchieren. Und so folgt sie der im Grunde unbekannten Adligen in den Keller des Schlosses.

An den Wänden des Kellergangs brennen Kerzen und sorgen für ein warmes Licht. Aus einem seitlichen Gang hört Giselle ein Trippeln. Sie glaubt, dass jemand um die Ecke gespäht hat. Kurz darauf bleibt Eva stehen und öffnet eine breite Holztüre.

"Was willst du mir da drin zeigen?"

"Deine Zukunft." sagt Eva, nachdem beide den Raum betreten haben. Er ist ungewöhnlich bequem eingerichtet für einen Keller, mit Teppichen, Couchen und Bücherregalen. Die Kellerwände sind teilweise mit roten Vorhängen bedeckt.

Plötzlich kommen mehrere Gestalten aus den Schatten hervor. Es sind um die zehn Menschen, Frauen und Männer. Sie wirken sehr bleich und Giselle kommt der Gedanke, dass es Vampire sind. Sie weiß es einfach.

"Darf ich vorstellen, meine Familie." sagt Eva.

Giselle erkennt sofort Max und den Onkel vom Friedhof wieder. Aber all die anderen Personen sind ihr im Grunde unbekannt. Eventuell hat sie das eine oder andere Gesicht auf einem Bild gesehen. Sie kann keine Erklärung dafür finden, warum die alle auf einmal im Keller auftauchen. Es sei denn, die Legenden sind wahr und die Familie besteht tatsächlich aus Vampiren. Wobei es noch andere schaurige Gründe für diese Versammlung geben könnte.

"Ich denke sie begreift es allmählich." sagt der Onkel zu einem zierlichen Mädchen mit glatten strohblonden Haaren und blutunterlaufenen Augen.

"Sie ist wirklich hübsch." gibt eine reifere Dame von sich.

"Ich will dich nicht lange auf die Folter spannen." sagt Eva zu Giselle. Die meisten Familienmitglieder lachen über die Zweideutigkeit dieses Ausdrucks. "Wir sind wirklich das, was man uns nachsagt. Vampire."

"Und das bedeutet?" Giselle bekommt es mit der Angst zu tun.

"Sie sind ja auf einmal voller Furcht." meint Sebastian. "Dabei wollten Sie vorher noch eine Vampirdynastie mit unserem Erben gründen."

Was für ein Spiel treiben die mit ihr? Und wo ist Draco? Am liebsten würde Giselle fortlaufen oder wäre niemals hierher gekommen. Nun hat sie sich mal wieder in eine unmögliche Situation gebracht. Im Keller eines Schlosses, das eine halbe Burg ist, umgeben von Personen, die sich von menschlichen Blut ernähren und Instinkte wie reißende Bestien haben, wenn man den Erzählungen Glauben schenkt.

"Machen Sie sich doch keine Sorgen, Kindchen." sagt eine Dame, deren Alter irgendwo zwischen Ende dreißig und Mitte fünfzig liegen könnte. "Wir haben nicht vor, Ihnen etwas Böses anzutun. Ganz im Gegenteil."

"Mein Bruder wird irgendwann unserem Weg folgen." erklärt Eva. "Doch vorher hat er noch eine Pflicht zu erfüllen."

"Er ist also kein Vampir?" möchte Giselle wissen.

"Nein, noch nicht." sagt Sebastian. "Aber er weiß, dass seine Familie Vampire sind und dass er sich früher oder später ebenfalls in einen verwandeln wird. Ich will nicht länger um den heißen Brei herumreden. Vorher soll er noch für Nachkommen sorgen. Mit einer Frau, die geeignet ist. Wir wollen, dass Sie diese Frau sind."

"Aber ich muss dich warnen. Du hast keine Vorstellung, womit wir es da zu tun haben." meint Eva. "Als ob ihn ein magischer Schutzschild umgibt, der jede Frau von ihm forttreibt oder auf andere Weise ruiniert. Deswegen haben wir beschlossen, die Sache in unsere Hand zu nehmen."

"Aber warum ich?" versteht Giselle nicht.

"Weil es einfach offensichtlich ist." sagt Eva. "Du und er ihr seid wie füreinander bestimmt. Alleine schon, dass er dich geküsst hat. Wir sind sofort eingeschritten. Hört sich unlogisch an, aber die Erfahrung hat immer wieder gezeigt, dass es nach dem ersten Kuss in eine total falsche Richtung geht, wenn man ihn einfach machen lässt."

"Sie sind wie gemacht für ihn." meint die Dame mit kaum einschätzbaren Alter. "Und für uns. Ihre Denkweisen und Ideen sind nicht wie die von normalen Menschen. Sie haben das Vampirsein in sich."

"Du wolltest von Anfang an nichts anderes, als seine Vampirkönigin sein." durchschaut sie Eva. "Es war dir sicher nicht bewusst, aber das war dein wahres Ziel. Macht, ewiges Leben und ewige Jugend. Ich finde das unglaublich romantisch. Du hast ihn wie eine Spinne in dein emotionales Netz eingewebt und es nicht einmal bemerkt."

Noch immer versteht Giselle nicht, warum sie ihr derartige Dinge erzählen und warum es so schwer ist, einen attraktiven Grafen zu verkuppeln. Eine arrangierte Vampirehe, noch dazu im Zwanzigsten Jahrhundert. Sie haben sich gerade ein Mal geküsst. Sollten sie nicht vielleicht schon etwas weiter sein, um solche Pläne zu schmieden?

"Und Sie sind sicher, dass er mich will?"

"Und wie er dich will." versichert ihr Eva. "Ich glaube er schreibt dir gerade einen Liebesbrief. Nur ohne unser Eingreifen würde das ganze in ein Drama oder eine Komödie enden, aber nicht am Altar. Er ist wie ein Kind, wenn es um ernsthafte Beziehungen geht."

"Aber Sie sind anders." sagt die Dame, die wohl etwas wie das weibliche Familienoberhaupt zu sein scheint. "Alleine, dass wir hier mit Ihnen all das so nüchtern besprechen können, ohne dass Sie schluchzend um Ihr Leben flehen, oder versuchen davonzulaufen, spricht Bände. Ich denke, Sie sind stark genug, unseren Erben zu seinem Schicksal zu führen."

"Dieses Gespräch hat niemals stattgefunden." sagt Eva. "Wir wissen, was wir tun. Es ist der einzige Weg, glaube mir. Du musst ihn wie einen verliebten Welpen oder einen verspielten Jungen behandeln, der völlig verrückt geworden ist, den du aber in die richtigen Bahnen lenkst, obwohl er glaubt, dass er es ist, der alles lenkt."

Nach ein paar romantischen Tagen mit Draco, seine Geschwister und der Onkel ließen sich erst einmal nicht blicken, packt Giselle ihre Koffer. Sie will sich vom Grafen zum Bahnhof bringen lassen. Schließlich muss sie irgendwann zurück in ihre Redaktion. Eigentlich muss sie nirgendwo hin, und die Idee mit der Abreise kam von seiner Schwester Eva. Sofort hat Draco sich in den Kopf gesetzt, alle Abreisepläne zu durchkreuzen, mit einem Verlobungsring und einem Streichquartett, das im Hintergrund etwas von Johann Strauss spielt. Giselle überlegt, wer von ihnen wohl zuerst ein Vampir sein wird, während sie mit Tränen in den Augen, und ganz überrascht von dem unerwarteten Heiratsantrag, dem Grafen ihr Jawort gibt.