Weihnachtsromanze
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Jessica hat die Nase voll von Weihnachten. In diesem Jahr lief alles schief.

Es war - beziehungsweise ist - eines der miesesten Jahre ihres ganzen Lebens. Ihr Freund hatte sie wegen seiner Midlife-Crisis verlassen, sie verlor außerdem ihren Freelancer Job in der Agentur und ihre Wohnung ist noch immer von einem Wasserschaden betroffen, weil es offenbar keine Klempner mehr gibt. Zumindest keine, die bereit wären, ihr Zuhause wieder in Ordnung zu bringen, auch ohne dass ein Großauftrag herausspringt. Niemand fühlt sich dafür zuständig. Weder die Hausverwaltung, noch der Vermieter, noch der Hausmeister Service, der telefonisch nur über eine Hotline mit Warteschleife erreichbar ist und sie seit Wochen nicht zurückruft.

Momentan hasst Jessica die Vorweihnachtszeit. Überall wird so getan, als ob alles schön und gut wäre. Doch gar nichts ist gut. Um ihre Miete bezahlen zu können, muss sie in den kommenden Wochen eine ihrer Lebensversicherungen auflösen. Es sei denn, sie findet bald eine neue Einnahmequelle.

Vermutlich wird sie an Heiligabend einsam und alleine vor sich hin deprimieren, obwohl ursprünglich ein Winterurlaub in einer Skihütte mit vielen lustigen Leuten geplant war, die jedoch allesamt Freunde ihres Ex sind.

Als sie an einem kalten Winterabend Mitte Dezember traurig durch die Straßen ihres Wohnviertels spaziert, fällt ihr das Geschäft wieder auf, das neu aufgemacht hat. Es liegt gegenüber dem Gebäude, in dem sie wohnt, und bietet Wohnungsdekorationen und einen Innenarchitektur Service an.

Im Schaufenster liegt unter anderem ein buntes, indisch wirkendes Kissen, das total hübsch aber gar nicht so teuer ist. Neugierig tritt sie ein und wird von dem warmherzigen Besitzer begrüßt. Sie hat ihn schon mal gesehen, neulich auf der Straße in der Nähe ihres Hauseingangs. Er sieht wirklich sehr gut aus. Gleichzeitig wirkt er interessant und originell, wie jemand, mit dem man gerne Zeit verbringt und redet.

Schnell stellt sich heraus, dass er in eine der Dachgeschosswohnungen einen Hauseingang weiter eingezogen ist, die vor einer Weile frei wurde. Zwei ihrer Nachbarn waren ganz erpicht auf die Wohnung und wollten sie für sich selbst beziehungsweise für Freunde.

Er erzählt ihr, dass er kürzlich in das Viertel zurückgezogen ist und sein Geschäft erst seit wenigen Tagen geöffnet ist. Er denkt, dass man hier in der Innenstadt an seinen exotischen Gestaltungsideen interessierter ist, als im Umland, wo man es mehrheitlich noch immer recht traditionell mag.

„Aber der Hauptgrund, warum ich zurück in die Innenstadt bin, ich hatte einfach genug von Feldern vor meiner Haustüre. Das Leben im Umland bietet zwar einige Vorteile, ich wollte einfach mal eine Weile Ruhe und mehr Quadratmeter, aber mir wurde bewusst, ich brauche einfach dieses urbane Flair. Vermutlich Gewohnheit.“

Jessica ist von seiner Offenheit und Freundlichkeit beeindruckt.

„Ja, das urbane Flair. Wer es lieben gelernt hat, will nichts mehr anderes und kehrt immer wieder zurück. Ging mir genauso. Ich habe es vor einigen Jahren auch mal mit dem Umland versucht.“

„Ich bin übrigens Mark.“ Er streckt seine Hand aus und Jessica reicht ihm lächelnd ihre.

Da sonst keine Kunden hereinkommen, reden sie mehr als eine Stunde miteinander. Jessica gibt ihm ein paar nützliche Tipps bezüglich seiner neuen Wohnung, auch was den Umgang mit der Hausverwaltung angeht. Mark kann es erst nicht glauben, dass der Hausmeister nur über ein Callcenter erreichbar ist.

Als der Heiligabend näher rückt, steht Mark eines Abends vor ihrer Wohnungstüre. Er lädt sie ein, bei ihm zu feiern. Sie hatte in ihrem Gespräch erwähnt, dass Weihnachten vermutlich schrecklich wird und sie sich nur noch auf das neue Jahr freut.

Jessica zögert zunächst, aber dann nimmt sie seine Einladung an. Es ist zwar unüblich, so einen Abend mit jemandem zu verbringen, den man noch nicht lange kennt, aber sie hat sowieso nichts Besseres zu tun und er offenbar auch nicht.

„Du weißt ja. Alles, was mich aus meinen verpfuschten Weihnachtsplänen herausholt, ist mir höchst willkommen. Es kann also nur besser werden.“

Marks Wohnung ist umwerfend. Natürlich, er ist Innenarchitekt. Aber so ein so unglaublich interessant gestaltetes Zuhause hat sie trotzdem nicht erwartet. Er schaffte es, viele Stilrichtungen harmonisch zu kombinieren. Schick aussehende technische Geräte treffen auf antike Kommoden und Regale voller Bücher. Art Nouveau Kunstdrucke von Alfonse Mucha und Gustaf Klimt hängen neben indischen Wandteppichen oder französischen Filmplakaten.

Und immer wieder erinnert die Dekoration daran, dass Weihnachten ist. In der Nähe des gedeckten Esstisches im Wohnzimmer steht als Krönung ein ganz klassischer, großer Weihnachtsbaum.

Apropos Esstisch. Mark ist nicht nur Innenarchitekt. Vor seinem Studium hat er eine Lehre als Koch gemacht, und das merkt man. Er bereitete eine Bouillabaisse vor.

Danach gibt es Lachs mit Apfel Kren und einer Nuss Sauce. Und als Nachspeise serviert er etwas, das wie Tiramisu aussieht, aber stark nach Lebkuchen schmeckt. Wenn Jessica nicht so voll wäre, sie würde noch eine zweite Portion davon verschlingen.

Es ist auch die Art, wie sie zusammen essen, die ihr so gefällt. Sie lassen sich richtig Zeit, unterhalten sich und lernen sich auf diese Weise langsam kennen. Insgesamt verbringen sie einen wunderschönen Abend zusammen.

Mark hatte noch Gesellschaftsspiele vorbereitet, nur als Option, aber zu zweit findet Jessica die irgendwie langweilig. So sitzen sie auf der Couch und reden. Nie geht ihnen das Gesprächsthema aus. Eher müssen sich beide zurückhalten, den Anderen nicht mit einem Schwall an Informationen zu überladen, bei den vielen Gemeinsamkeiten, die sie entdecken.

Schließlich kommt auf einmal der entscheidende Moment. Sie sitzen beide auf dieser unglaublich bequemen Couch, die einen bunten Überzug hat. Zuerst dachte Jessica, das wäre ebenfalls indisch, wie so vieles in der Wohnung, doch Mark verneint.

„Das ist von einem Designer. Habe es im Outlet gekauft. War ein echtes Schnäppchen.“

Ihre Gesichter sind nicht weit voneinander entfernt und Jessicas Herz beginnt, schneller zu schlagen. Alles fühlt sich an wie ihr erster Kuss, der gleichzeitig Beginn einer wunderschönen Liebesgeschichte sein könnte. Doch Mark zieht irgendwie zurück, scherzt verlegen, bietet an, noch etwas Nachtisch zu holen, obwohl sie bereits abgelehnt hatte.

Jessica bleibt noch fast eine Stunde, aber eine Situation wie zuvor will sich nicht wiederholen. Die Luft ist wohl erst einmal raus.

„Lass uns doch bald mal etwas zusammen unternehmen.“, meint Mark, während Jessica ihre Schuhe anzieht. „Wir könnten uns ja auf einen Kaffee treffen.“

„Gerne. Wir telefonieren einfach.“

In den nächsten Tagen fühlt sich Jessica verwirrt und neigt zu einem bedrückten Gefühl. Einerseits hat sie die Hoffnung, dass sie sich bald wiedersehen, um auszutesten, ob es da noch mehr gibt.

Andererseits befürchtet sie, dass es das war, und sich ihre Beziehung eher in eine nachbarschaftliche oder rein freundschaftliche Richtung entwickeln wird. Das wäre zwar auch völlig in Ordnung, aber etwas in ihr hofft, dass noch etwas Romantisches passiert. Gleichzeitig ermahnt sich Jessica, Mark nicht als schnellen Ersatz für ihren Ex zu betrachten, nur weil sie sich gerade nach einer Weihnachtsromanze sehnt.

Dafür wäre es zwar sowieso zu spät, der zweite Feiertag ist schon vorbei, aber immerhin könnte es noch eine Weihnachtsferienromanze werden. Doch auch die scheint mit jedem verstreichenden Tag unwahrscheinlicher.

Verliebt an Silvester

An Silvester, Mark hat sich noch nicht gemeldet, bleibt Jessica daheim. Gemeinsam mit einer Freundin, die wie aus dem Nichts erschien, und froh ist, dass Jessica noch keine Pläne hat. Tanja geht es gerade auch nicht so gut wegen ihrer Scheidung und will zum Jahreswechsel nicht alleine sein, braucht eine gute Freundin zum Reden.

Sie sehen sich tatsächlich Diner for One an, auch wenn es nur ironisch gemeint ist. Dazu trinken sie etwas und naschen kleine Toastbrötchen mit Forellenkaviar. Als langsam immer mehr Silvesterraketen zu sehen sind und immer mehr Böller explodieren, weil Mitternacht naht, beginnt Tanja der Hafer zu stechen.

„Lass und doch ein wenig raus gehen, ja?“

Jessica stimmt zu, obwohl ihr eigentlich weder nach Krach noch Kälte zumute ist. So stehen sie bald unten auf dem Platz, der sich zunehmend mit Menschen füllt. Sie kommen aus den Wohnungen rundherum und den Restaurants, wo sie Silvester feiern. Es ist kurz vor Mitternacht.

Plötzlich steht Mark vor ihr. Er strahlt sie an vor Freude und Jessica entfährt ein nervöses „Hey, schön dich zu sehen!“. Sie hat Tanja von ihrer neuen Bekanntschaft erzählt und befürchtet irgendwelche offensichtlichen Blicke oder ein geflüstertes „Ist er das?“.

Mark hat ebenso noch einen Freund dabei. So stehen sie als kleine Gruppe in der Nähe eines Springbrunnens, während über ihnen immer mehr bunte Silvesterraketen ein kleines Spektakel erzeugen.

„Was sind denn deine Vorsätze für das neue Jahr?“, fragt Mark. „Ich meine, außer deinen Wasserschaden endlich beheben zu lassen.“

„Verrate ich nicht.“, antwortet Jessica koketter, als sie will.

„Dann muss ich dir dein Geheimnis wohl irgendwie entlocken.“

„Ja, tu das. Ich werde es dir aber nicht leicht machen. Du könntest ja damit beginnen, mir deine Vorsätze aufzuzählen.“

„Och, da gibt’s nicht viel. Eigentlich ist es nur ein einziger.“

„Und welcher?“, fragt Jessica und ahnt plötzlich, dass der etwas mit ihr zu tun haben könnte, so wie Mark sie gerade ansieht.

Ein Count-down ist im Hintergrund zu hören. Die Menschen zählen hinunter bis Mitternacht.

„Drei … zwei … eins …“, rufen sie im Chor.

„Dich an Mitternacht zu küssen.“

Es ist ein langer Kuss, und nachdem sie zwischenzeitig voneinander ablassen, beginnen sie gleich wieder von vorne. Ihre Begleitungen stehen ein paar Meter entfernt und schweigen verlegen.

„Ich hätte das schon an Weihnachten tun sollen.“, meint Mark etwas später, während sie zu einem Lokal ein paar Straßen weiter aufbrechen, wo sie noch ein wenig feiern wollen.

„Und warum hast du es nicht?“ entfährt es Jessica, obwohl sie das lieber nicht gesagt hätte.

„Auch ich habe gerade eine Beziehung hinter mir. Ich wollte nichts vermischen. Von den Gefühlen her, meine ich.“

„Ich weiß ganz genau, was du meinst.“, sagt Jessica und umschließt seine Hand, während sie zusammen in ein neues Jahr und eine neue Zeit aufbrechen.