Eine gute Partie
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Die Grafschaft von Nicoles Familie liegt in einem entlegenen Teil des Landes. Sie ist nicht gut zugänglich wegen einer Bergkette und hat eine nur unregelmäßige Eisenbahnverbindung. Die Ländereien bringen weniger Geld ein, als die Familie ausgibt, und das Vermögen schrumpft langsam aber stetig. Ihr Familiensitz, ein altes Schloss, kostet eine Menge Unterhalt. Ständig gibt es etwas zum Reparieren und das Personal muss auch bezahlt werden.

Hier zu sparen wäre schwierig. Die Menschen arbeiten schon ihr ganzes Leben auf dem Gut der Familie. Sie kochen und reinigen für sie, betreiben das örtliche Wirtshaus oder sind im Sägewerk beschäftigt. All das verursacht mehr Kosten, als es einbringt. Sommerfrischler zieht es in den letzten Jahren immer weniger her und die Bretter stapeln sich im Lager. Nur die Getreidefelder werfen einigermaßen Gewinn ab, aber das reicht nicht.

"Ich hoffe, du überlegst dir gut, wen du heiratest", sagt Nicoles Großmutter manchmal mit mahnendem Blick. "Die Lage ist angespannt. Wir müssen unbedingt eine gute Partie für dich finden."

Die Großmutter hält Nicole für ein unzüchtiges junges Ding, und sie ist überzeugt davon, dass sie noch die Ehre der Familie beflecken würde, wenn ihr Treiben eines Tages rauskommt. Dabei wurde sie von ihrer Großmutter nur bei einem Gespräch mit einem jungen Mann aus der Ortschaft erwischt. Sie lagen beide unter einem Pflaumenbaum, allerdings mindestens einen halben Meter voneinander entfernt. Das Ganze wurde zur Familienaffäre aufgebauscht, sodass sich Nicole nur noch heimlich mit Jonas treffen konnte.

"Er gehört zu einer gewöhnlichen Bürgerfamilie, die nicht mal sonderlich reich ist.", bemängelt Nicoles Mutter.

"Jonas wird bald in die Stadt ziehen, um Chemie zu studieren."

"Du lässt dich also mit einem Bettelstudenten ein, der weder Beruf noch Vermögen hat?", moniert der Graf, ihr Vater. "Ganz zu schweigen von einem angemessenen Adelstitel."

"Ich lasse mich mit niemand ein." verteidigt sich Nicole. "Wir unterhalten uns nur ab und zu."

Das war gelogen, und ihre Großmutter kann es regelrecht wittern. Sie sieht Nicole mit triefendem Blick an. Natürlich kamen sie sich schon viel näher, allerdings nicht unter dem Baum, als Großmutter sie zusammen erwischte.

Während sich Nicole mit dem zukünftigen Chemiestudenten Jonas an geheimen Orten unter freier Natur traf, fädelten ihre Eltern hinter ihrem Rücken ihr Schicksal ein. Sie hatten schon eine Weile gesucht, aber endlich tat sich eine mehr oder weniger gute Partie für Nicole auf. Das könnte die Lösung ihrer finanziellen Probleme sein. Ein aufstrebender junger Adliger aus der Stadt, den es aufs Land zieht und der selbst kein Gut besitzt. Er ist nur Freiherr, aber das ist immerhin etwas. Dafür schien er finanziell erfolgreich zu sein. Durch eine Heirat würde sich der junge Herr Maximilian ausgezeichnet mit ihrer Nicole ergänzen. Er hat das Geld und die Geschäftstüchtigkeit, sie das Schloss mit dem Landgut, einschließlich höherer Adelstitel für ihre gemeinsamen Kinder.

"Der soll mit seinen Geschäften schon einen Geldsegen über einige Leute gebracht haben.", meint der Vater irgendwann beim Abendessen.

"Wer weiß, was der aus Ländereien wie den unseren alles herausholen könnte, mit seinen Ideen." schwärmt die Mutter.

"Ich hoffe, ihr wollt mir den nicht andrehen.", beschwert sich Nicole, die sich noch bis zum Ende des Sommers insgeheim mit Jonas trifft, und am liebsten mit ihm zusammenbleiben möchte.

"Ist es noch immer dieser Bettelstudent?", rügt sie die Großmutter.

"Er ist kein Bettler. Er wird während seines Studiums ein Zimmer mit Logis beziehen, das seine Eltern bezahlen."

"Dafür weißt du aber ganz schön viel über seine Pläne." verhört sie die Großmutter.

"Wir müssen gut aufpassen, mit wem wir unsere Blutlinien kreuzen, Kind." klärt sie die Mutter zum wiederholten Male auf.

Dabei hat Nicole nicht mal die Absicht, sich schon jetzt auf Jonas festzulegen. Sie will nur mit ihm zusammen sein, ganz unverbindlich. Mal sehen, was darauf wird. Aber offenbar hat man dazu kein Recht, wenn man eine junge Adlige des späteren neunzehnten Jahrhunderts ist.

"Wir hätten ihr nicht erlauben sollen, sich diese neuen Romane zu bestellen.", sagt der Vater. "Die haben ihr all die Flausen in den Kopf gesetzt."

"Kind. Wir wollen nur dein Bestes." erklärt ihr die Mutter. "Du bist noch jung und kannst so viele Fehler machen. Du darfst dich nicht an jedem wegwerfen. Wir tragen eine Verantwortung für unser Haus."

Schließlich überzeugen die Eltern Nicole, sich mit dem Freiherrn aus der Stadt zu treffen. Genau genommen lebt er nicht mehr in der Stadt, sondern in der nächsten Ortschaft, wo er sich im Gasthof einquartiert hat. Von dort führt er auch seine Geschäfte. Manchmal soll er sich tagelang auf Geschäftsreisen befinden.

Bei dem Treffen scheint der junge Mann, der ihr den Hof macht, mehr an den Vater, als an Nicole interessiert zu sein. Sie sprechen über Politik, geschäftliche Dinge und über die Preise, die für Ländereien gezahlt werden. Es geht um den Handel mit Holz, Brettern, Fellen und Wildfleisch sowie um Spekulationsgewinne, die an den Börsen in der Stadt erzielt werden können. Irgendwann nach dem Essen wird Nicole aufgefordert, dem Herrn Maximilian den Schlosspark zu zeigen und mit ihm etwas spazieren zu gehen, damit sie ihn mal kennen lernt. Nicole kommt sich vor wie auf dem Bazar für Eheschließungen.

Die Zeit alleine mit Maximilian war schrecklich, erinnert sich Nicole später. Es herrschte meist peinliches Schweigen. Irgendwann begann er, sie über ihre Lieblingsfarben bei Kleidern, Polstermöbel und Vorhängen zu befragen. Sie entgegnete, sie interessiert sich dafür nicht sonderlich und dass sie lieber liest. Da meinte er, dass er keine Zeit zum Lesen hätte, weil er so viel arbeiten müsse. Während des Spaziergangs behandelte er sie ein wenig wie ein Kind. Seine Geschäfte beschrieb er mit Bienen und Blumen, als ob sie nicht fähig wäre, einen ökonomischen Vorgang zu verstehen. Man gewann auch den Eindruck, Nicoles Vater würde stets als Geist dabei sein, und dass Maximilian immer noch dessen Erwartungen erfüllen möchte, obwohl sie gerade ungestört und alleine sind.

Zwei Wochen später hält Maximilian um Nicoles Hand an. Natürlich bei ihrem Vater, dem Grafen. Und der sagt ja. Nicole fühlt sich übergangen.

"Die endgültige Antwort werden Sie dann in ein paar Tagen erfahren." versucht Nicole Zeit zu gewinnen, um das abzuwenden.

"Nein." korrigiert sie ihr Vater. "Wir haben uns schon entschieden. Wir werden uns vermählen."

"Dann bleibt es also dabei.", sagt Maximilian erleichtert und verabschiedet sich.

Am nächsten Tag vertraut sich Nicole ihrer Schwester an. Sie erzählt ihr von Jonas, in den sie verliebt ist, und der bald etwas studiert, das eines Tages wichtig sein wird, aber noch weit davon entfernt ist, für eine Familie sorgen zu können, geschweige denn für ein Landgut mit Schloss. Dieser Maximilian könnte das bestimmt, aber den findet Nicole so unromantisch.

"Adlig sein bedeutet auch, Opfer zu bringen, nicht nur zu empfangen.", erklärt ihre Schwester. "Am Ende entscheidet die Frage, was das Beste für die Familie ist."

Ihre Schwester war keine große Hilfe. Da hätte Nicole genauso ihre Mutter fragen können. Anstatt ihr den Rücken zu stärken, verpetzte sie Nicole bei ihren Eltern, die nun eine Bestätigung erhielten, dass die Sache mit Jonas ernster war, als angenommen.

"Du wirst dich natürlich nicht an einen Studenten verschwenden, selbst wenn er aus einem angesehenen Bürgerhaus stammt.", stellt der Vater klar. "Du wirst Maximilian ehelichen. Er kann unsere Familie in die Zukunft führen."

So langsam wird Nicole nachdenklich. Alle Menschen, die ihr etwas bedeuten, raten ihr, diese Maximilian zu heiraten und sich fern von Jonas zu halten.

"Mit dem hast du keine Zukunft.", beschwört sie ihre Großmutter. "Willst du erst einmal allein auf ihn warten, bis er mit seinen komischen Studien fertig ist?"

Natürlich will auch Nicole, dass ihr Ehemann fähig ist, ein Landgut zu leiten und ein Vermögen einzubringen. Sie ist es gewohnt, dass man sie bedient und andere für sie arbeiten. Keinesfalls möchte sie in die Situation kommen, wo sie das nicht mehr bezahlen kann. Vielleicht ist Jonas wirklich nur eine Jugendtorheit und Maximilian die korrekte Entscheidung.

Sie trifft sich noch ein Mal mit Jonas, um ihm zu erklären, dass sie nicht auf ihn warten kann und auch nicht in seine Studentenwohnung in die Stadt ziehen will, was vermutlich als unsittlich betrachtet und untersagt würde, weil sie nicht verheiratet sind. Am Ende wird sie noch als Flittchen betrachtet, statt als das, was sie ist, eine Komtesse.

Jonas reagiert enttäuscht. Es tut Nicole leid, zu sehen, dass sie ihm das Herz gebrochen hat. Aber so ist nun einmal die Wirklichkeit, die sich hier zwischen sie stellt.

Die Hochzeit ist schöner, als sie sich Nicole erträumt hat. Sie trägt ein wunderbares Brautkleid und sie halten ein großes Fest ab. Als Gäste kamen unter anderen viele Adlige aus nicht weit entfernten Gütern. Es kamen auch einige Leute aus der Stadt, die um zwei Ecken zu ihrer Familie gehören. Zu Maximilians Familie gehört vor allem städtisches Bürgertum. Es scheint sogar ein richtiger Industrieller zu dabei sein und ein Bankier. Wenigstens hat sie in solide Verhältnisse hinein geheiratet, so wie ihre Eltern das für sie wollten, denkt Nicole. Auch wenn sich nur schwer einschätzen ließ, inwieweit Maximilian mit welchen Gästen verwandt ist.

Auf dem Parkett gibt Maximilian eine gute Figur ab. Er kann tanzen und kümmert sich gleichzeitig um die Gäste, denen er freundlich die Hände schüttelt.

"Einige davon sind sehr wichtige Persönlichkeiten, die uns helfen werden, unser familiäres Vermögen beträchtlich zu vermehren", erklärt Maximilian Nicole, während sie tanzen.

"Dann sollten wir nett zu ihnen sein.", meint Nicole.

"Ja, das sollten wir."

Es wird langsam geschäftig auf dem Landgut der Familie. Immer häufiger kommen Besucher aus den größeren Ortschaften und aus der Stadt vorbei. Meist geht es um Geldgeschäfte. Maximilian scheint etwas zu bewirken. Die Kosten für die Renovierung eines Flügels konnte er ohne Probleme begleichen und schlug sogleich vor, noch ein paar weitere Stellen im Schloss auf Vordermann zu bringen.

"Ich bin an ein paar ausgezeichneten Investitionen beteiligt. Einige davon werden über die Börse gehandelt und werfen nicht nur Geld ab, sondern steigen auch an Wert, wenn man sie mit Gewinn verkaufen will." erklärte Maximilian irgendwann dem Grafen, der wissen wollte, wodurch sein Schwiegersohn so erfolgreich war.

Das Bild vom erfolgreichen Schwiegersohn, der einen neuen Reichtum über die Familie brachte, zerplatzte allerdings nach ein paar Jahren Ehe. Irgendwann bat der Bankier der Familie um einen Termin mit dem Grafen. Er wollte ihn aufklären, dass sein Schwiegersohn die gesamte Zeit schon Schulden anhäufte und als Sicherheit auch den Namen und somit das Eigentum der Grafenfamilie angab. Das Ganze fand allerdings bei anderen Geldhäusern statt. Der Bankier konnte dem alten Grafen hier nur unverbindlich darauf aufmerksam machen. Des Bankgeheimnisses wegen.

"Es gibt da noch ein Gerücht, das ich Ihnen zutragen sollte, Herr Graf.", sagte der Bankier in verschwörerischem Tonfall. "Ihr Schwiegersohn erleidet gerade beträchtliche Spekulationsverluste."

Offenbar hatte Maximilian Schulden auf den Namen der Familie aufgenommen, um damit an der Börse zu spekulieren oder andere riskante Investitionen zu tätigen. Er war vom Erfolg seiner Aktivitäten überzeugt, doch die Wirklichkeit lehrte ihn eines besseren. Der alte Graf wollte ihn zur Rede stellen, doch Maximilian gab ihm keine Gelegenheit dazu. Er stahl sich mit dem letzten Geld davon, das ihm zwischen die Finger kam. Auch Nicoles Schmuckschatulle ist leer, während sie seinen Abschiedsbrief liest, in dem er beteuert, dass es ihm so leidtut und dass es nicht so geplant war. Er hätte ihrer gesamten Familie Reichtum gebracht, wenn der Markt nicht plötzlich dem Chaos verfallen wäre.

Anscheinend brachte der Freiherr noch andere verärgerte Opfer um Teile ihres Vermögens. Das setzte er auf dieselben Wertpapiere, wie bereits das andere Geld. So sah sich Maximilian genötigt, auf ein Schiff nach Übersee davonzusegeln. Es ging nach Afrika. Sein Ziel kam nur heraus, weil Nicole vier Jahre später über seinen Tod verständigt wurde. Er starb an einer unbekannten Tropenkrankheit, wie es in dem Schreiben hieß.

Zum Glück hatte die Familie nur für einen Teil der Spekulationsschulden aufzukommen, die Maximilian verursacht hatte. Der Verlust war trotzdem hoch genug, auch jener, der nur Ansehen kostete. Nicole war nun die Witwe eines Diebes und Versagers, und keine noch nie vermähle Komtesse mehr. Der Name ihrer gesamten Familie stand in Verbindung mit einem Betrug, bei dem auch andere Adlige geschädigt wurden. Das Schloss mussten sie verkaufen. Sie zogen weg auf ein kleines Gut am Rande der Stadt.

Gute Partie Witwe

"Stadtluft macht frei", sagte der alte Herr Graf, als sie das Haus zum ersten Mal gemeinsam betraten. "Wenn, dann schaffen wir es hier, nochmal neu zu beginnen. Nirgends sonst auf der Welt."

Nicole ist allerdings nicht nach Neubeginn. Sie zieht sich zurück in das häusliche Leben ihrer Familie und trägt meist schwarz. In die Rolle der Witwe geht sie auf, obwohl sie Maximilian kein bisschen hinterhertrauert. Sie ist nur zornig auf ihn. Doch sein Ableben gibt ihr einen erklärbaren Grund, mit den Härten dieser Welt abzuschließen.

Aus Langeweile blättert Nicole in der Zeitung. Aus dem Politikteil hat sie bereits das meiste gelesen, und auch die Kultur hat sie schon durch. Also bleiben ihr fast nur noch die Wirtschaftsnachrichten. Sie blickt auf das Bild und ihr Herz wird auf einmal schwer. Es ist ein Foto von Jonas, der vor Jahren aufbrach, um Chemie zu studieren, und in den sie ursprünglich verliebt war.

Er steht vor den Werkstoren einer neu gegründeten Fabrik für moderne Industriechemikalien. In einigen Brachen sollen die Wunder bewirken und die Firma, die Jonas leitet, und die ihm zum Teil sogar gehört, kann sich vor Aufträgen kaum noch retten. Nicole überfliegt die technischen Erklärungen. Die versteht sie eh nicht. Was sie aber versteht, ist das Bild weiter unten. Es zeigt Jonas zusammen mit einer jungen Dame, die einen Säugling in den Händen hält. In dem Text daneben ist von einer neu gegründeten Familie die Rede und von großen Erwartungen an die Zukunft. Weiter will Nicole nicht mehr lesen.

Mit Jonas hatte sie aus einem Verantwortungsgefühl und aus finanzieller Vernunft keine ernsthafte Verbindung eingehen wollen. Ihre Vernunft führte sie zu einem Versager, der sogar zu dumm war, andere zu betrügen. Ein Mann, der auf der Flucht vor dem, was er angerichtet hat, ums Leben kam. Er ging freiwillig ins Exil und verendete dort.

Jonas dagegen, den sie damals liebte, und für einen Bettelstudenten hielt, hat offenbar alles richtig gemacht. Am liebsten würde Nicole nochmal zurückreisen in die Zeit und ihre Fehler wiedergutmachen. Selbst wenn ihr das einen Streit mit ihrer Familie eingebracht hätte. Doch sie weiß, dass sich dieser Fehler nicht mehr ausgleichen lässt. Was ihr noch bleibt, ist die Trauer wegen verpasster Gelegenheiten und den Härten ihres Schicksals.

Aber vielleicht hat ihr Vater ja Recht und Stadtluft macht wirklich frei. So sollte ihre gescheiterte Ehe hinter sich lassen und in das bunte Leben der Stadt mit ihren Salons und exklusiven Clubs eintauchen. Nur einen Fehler wird Nicole nicht noch einmal begehen. Sie wird niemanden mehr Macht über ihr Vermögen und ihre Existenz gewähren.