Vampirbar
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Das erste Mal sah ich sie in einem Zirkuszelt. Sie tanzte dort zu den Houseklängen des damals noch jungen Westbam. Um uns herum gab es nur diesen neuen Sound und jede Menge Subkultur. Jungs in bordeauxroten Doc Martens, kurzen Hosen mit Kniestrümpfen und Sakkos. Mädchen in Cowboystiefel, zerrissenen Levis, Blazer und nur einen BH darunter. Die Achtziger Jahre gingen langsam zu Ende und eine revolutionäre Zeit schien damals zu beginnen. Die Leute sahen viel besser aus als früher. Alle wollten Models oder Filmstars sein, zumindest irgendwie individuell, avantgardistisch oder wenigstens poppig.

Wir verabredeten uns an einem Sommerabend am Fischbrunnen. Sie kam nicht. Ich rief sie an. Sie hatte das Date offensichtlich vergessen und versprach, sich sofort auf den Weg zu machen. Es war bereits dunkel, als sie erschien. Bei sich trug sie ein Buch von Milan Kundera, das gerade als Verfilmung im Kino lief. Wir philosophierten den ganzen Abend über das Leichte und das Schwere im Leben, über Spaß und Verantwortung. Sie war ein Anhänger des Letzteren, während mir die süße Unverbindlichkeit sympathischer erschien. Vielleicht hätte sie erst einmal beginnen sollen, pünktlich zu Verabredungen zu erscheinen. Und ich hätte mich trauen sollen, sie endlich zu küssen. Als wir nämlich durch den Englischen Garten spazierten, übernahm sie diesen Part, womit mir jede Kontrolle über unsere neue Beziehung abhandenkam. Leider hielt diese erst einmal nur für einen Abend und ein paar Folgeverabredungen, in denen ich es nicht schaffte, ihr wieder so nahe zu kommen wie zuvor. Und so verschwand sie aus meinem Leben, physisch. Doch auf einer feinstofflichen Ebene wurde sie zum Mythos.

Ich versuchte sie ein paar Monate später anzurufen, dank filmreifer Romanzen im Umfeld von Läden wie der Negerhalle mit gestärktem Rücken. Die Nummer gab es aber nicht mehr. Erst ein ganzes Jahr später liefen wir uns endlich wieder über den Weg. Es war auf einer Acid-Party im Wolkenkratzer. Nebel, Trillerpfeifen und plötzlich stand sie vor mir, trug die blonden Haare offen, einen schwarzen Body mit Spitzen und eine enge Stoffhose. Ich hatte ein Kaschmirjackett an, darunter ein Paisleyhemd, überweite Jeans und Sendra Boots mit Stahlkappen. Als Begrüßung fielen wir nach wenigen Worten übereinander her.

Am nächsten Morgen hatte ich einen Kater und zwei Bisswunden am Hals. Mein Kopf tat weh. Ich fragte mich, ob das mit ihr und mir so etwas wie eine Vampirgeschichte werden sollte. Nicht dass ich Probleme damit gehabt hätte. Die Welt ist sowieso viel zu nüchtern und realistisch. Gegen einen Hauch Okkultismus hätte ich nichts einzuwenden gehabt. Doch die Bisspunkte verschwanden so schnell, dass sie auch Einbildung gewesen sein konnten. Was blieb war der Hauch ihres feinen Parfüms auf meinem Rollkragenpullover.

Wir rannten uns immer wieder über den Weg. Sie wurde zu meinem Mythos, meinem Schicksal. Ich konnte nicht aufhören, nach ihr zu suchen. Immer wenn ich ausging und es langsam dunkel wurde, bestand eine gewisse Chance, dass sie auf einmal da war. Wenn das eintrat, war das so, als ob wir schon viele Jahre miteinander zusammen gewesen wären. Sie las in mir wie in einem offenen Buch. Und sie sah dabei jedes Mal genauso aus wie damals, als ich ihr im Musikzirkus das erste Mal begegnete. Zumindest was die Erscheinung angeht und die zeitlose Art, wie sie ihre Haare trägt. Die Kleidung variierte. Auf der Loveparade-Party zeigte sie sich in einem Hybrid aus Minikleid und Trainingsanzug mit Streifen. Im Ministry of Sound hatte sie ein langes Kleid und hohe Stiefel an. Auf dem Filmball präsentierte sie sich in einem Chanelkostüm oder etwas Ähnlichem.

Natürlich trafen sich unsere Wege auch zur Jahrtausendwende, genau um Mitternacht schmusten wir und wünschten uns, auch noch das nächste Jahrtausend gemeinsam zu verbringen, auf unsere magische und ungebundene Art. Einmal sah ich sie auf Youtube, Mitschnitte vom Pulverturm Revival, aufgenommen mit einer Handykamera. Sie strahlte eine jugendliche Frische aus, wie niemand sonst. Entsprechend viele Zeit nahm sich der Handytyp, sie zu filmen.

Es war unmöglich, nicht an sie zu denken. Sie wurde zum zentralen Punkt meines Lebens. Doch ihre Jugend gab mir ein Rätsel auf. Sie konnte eigentlich nur ein Vampir sein. Als die gesamte Menschheit gebannt auf die Projektionen schaute, um dem ersten Kolonialschiff bei der Landung auf einem Planeten außerhalb der Milchstraße zuzusehen, stand sie wie gewohnt vor mir. Zu besonderen Ereignissen tat sie das gerne. Wir verbrachten die gesamte Nacht zusammen und wie üblich sollte sie noch vor Morgengrauen verschwinden, mich mit diesen üblichen kleinen Bisswunden und den Kopfschmerzen alleine lassen. Auch wenn ich am nächsten Tag eine Prüfung zu bestehen hatte, so ein Navigationsstudium ist kein Kinderspiel, beschloss ich mich irgendwie wach zu halten. Ich wollte sie zur Rede stellen, ihr meinen Verdacht mitteilen.

"Du erstaunst mich", sagte sie in ironischem Tonfall und behielt wie gewohnt die Kontrolle über die Situation. "Du kommst wirklich jetzt an und möchtest wissen, ob ich dir verheimlicht habe, ein Vampir zu sein? Das ist ... irgendwie süß."

Dann ging sie zu den Vorhängen und zog diese auf. Helles Sonnenlicht fiel auf ihr goldenes Haar und ließ ihre jugendliche Haut strahlen. Draußen flog ein Lufttaxi an unserem Galeriefenster vorbei und ich wurde kurz eifersüchtig, weil ich glaubte, dass der Taxipilot ihr nachgierte. Ich stellte mir vor, wie ich ihm hinterhersprang, aus seinem Copter zog und sonst noch was mit ihm anstellte.

Immer diese Eifersucht. Ich musste mich konzentrieren. Er hätte durch die Spiegelung und aufgrund seiner Geschwindigkeit sowieso nichts erkennen können. Es ging ursprünglich um meinen Verdacht. Sie hätte eigentlich zu Staub zerfallen müssen, durch die Berührung mit den hellen Strahlen. Ein Indiz für ihre heimliche Blutsaugeridentität war die Tatsache, dass wir uns nie bei Sonne sahen.

"Reden wir doch lieber mal über dich", drehte sie den Spieß um und mir wurde auf einmal unwohl. "Student, oder? Was willst du mal werden, wenn du groß bist? Feuerwehrmann? Anwalt? Raumgildennavigator?"

Tatsächlich begann ich gerade ein Studium der divinatorischen Navigationskunst. Doch sie lenkte ab. Das hatte nichts mit der Tatsache zu tun, dass sie immer noch so aussah wie damals, als ich sie Ende der Achtziger Jahre kennenlernte. Welche Achtziger waren das? Langsam dämmerte mir etwas, das ich eine lange Zeit verdrängt hatte.