Sprung in die Unendlichkeit
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Christopher erwachte mitten in der Nacht. Vielleicht hatte ihn die nahe Turmuhr geweckt, die mit mächtigen Schlägen das Ende des alten sowie den Anbruch des neuen Tages verkündete. Doch da war noch etwas - ein Rascheln vielleicht. Eher das Geräusch eines kleinen Flügeltieres. Hatte sich ein Vogel in das Zimmer verirrt? Die Dunkelheit ermöglichte es ihm nicht einmal, die Hand vor Augen zu sehen. Auch Lisa, die nur wenig von ihm entfernt lag, vernahm er nur anhand ihres stillen, gleichmäßigen Atems. Und dennoch, da war etwas. Er fühlte sich beobachtet und auf seltsame Weise bedroht. Fast so, als träume er das alles nur.

Als Lisa ihn am Morgen aus dem Schlaf rüttelte, da waren die Schrecken der Nacht schon längst entschwunden. Nichts erinnerte an diese seltsame Begebenheit und auch Christopher versuchte nur halbherzig, die gedanklichen Versatzstücke zu einer Erinnerung zu vervollständigen. Es gelang ihm nicht. Schon bald übernahm die Tageszeitung mit ihren aktuellen Meldungen die Führung seines Gehirns. Erst die Morgentoilette riss ihn aus seinen Gedanken und machte ihm schonungslos deutlich, dass diese Nacht mehr passiert sein musste, als er sich das einzugestehen in der Lage war: Zwei Male an seinem Hals kündeten von dem Unheil eines Bisses - und das war gerade zu dieser Zeit eine böse Überraschung.

Immer wieder einmal kursierte zuletzt das Gerücht, dass Vampire hier ihr Unwesen trieben. Die Fabelwesen hatten wiederholt die Bürger des Städtchens heimgesucht. Doch niemand konnte die Existenz der blutrünstigen Fledermäuse belegen. All ihre Opfer schrieben die Erlebnisse in der Nacht einem bösen Traum zu. Wären da nicht die Bissspuren, die sie gleichsam am Halse trugen und die sie schamvoll mit dem Schal zu verdecken suchten. Nun also auch er, nun also auch Christopher. Das Blut schoss ihm heiß durch die Adern, das Gefühl der Hilflosigkeit machte sich breit. Wann würden sie wieder zuschlagen?

Lisa erfuhr von alledem kein Wort. Wozu sollte auch sie sich noch mit den Gedanken plagen, die nun durch Christophers Gehirn rasten? Beide gingen nach einem zärtlichen Morgenkuss auseinander, um ihr Tagewerk zu verrichten. Die kleinen Wunden an seinem Hals hatte er vor seiner Freundin verbergen können. Verliebten Blickes ist ihr auch nicht aufgefallen, welche Sorgen den jungen Mann nun umtrieben und unter welch geistiger Anspannung er jetzt zu leiden hatte. Wem sollte er sich offenbaren? Musste das überhaupt jemand wissen? Selbst wenn er sich Freunden oder Kollegen anvertraut hätte, die Macht des Übersinnlichen würden auch sie nur schwerlich besiegen können.

Die aufziehende Gefahr wollte er zunächst mit niemandem besprechen. Selbst mit Lisa nicht. Christopher hatte selbst den Weg zu gehen, der dem Menschen nach einem Vampirbiss vorbestimmt ist: Irgendwann wird auch er ein Wesen der Nacht, das, getrieben von dem Durst nach Blut, neue Opfer sucht. Ein Entrinnen aus diesem Schicksal gab es nicht, die Male am Hals waren die Anzeichen eines ewigen, unabänderlichen Daseins als Vampir. Doch dieser Gedanke erschreckte Christopher weniger, als er das gedacht hätte. Er fühlte sich beinahe von einer Last befreit: Er konnte nicht mehr sterben. Lediglich die Liebe, die musste er zurücklassen.

Seine große Liebe war stets Lisa gewesen. Weder wollte er jemals eine andere Frau, noch hatte er zeit seines Lebens versucht, einer anderen als ihr näherzukommen. Seit der Schulzeit kannten sie sich, liebten sich daraufhin und zogen vom ersten eigenen Geld während der Ausbildung zusammen. Das Glück war perfekt, nur der bislang unerfüllte Kinderwunsch hätte es abrunden können. Nun aber empfand er es nicht einmal mit Kummer, Lisa verlassen zu müssen. Ihm wurde klar, dass das, was ihn jetzt erwartete, mehr war, als alles irdische Glück ihm bieten konnte. Es ergaben sich neue Perspektiven, wenngleich Christopher nun ein Gejagter sein würde.

Nach einem kurzen Abend wurden beide schnell müde. Sie legten sich wie eh und je gemeinsam hin, wo sie auch bald sacht ins Reich der Träume glitten. Doch auch aus ihnen wurde Christopher geweckt. Wieder hatte er noch das letzte Erzittern der Turmuhr hören können. Aber etwas fehlte. Die gleichmäßige Atmung Lisas war nicht zu vernehmen. Panisch fühlte er in der Dunkelheit auf dem Bett neben sich - und fand es leer. Jetzt erst spürte er die Angst vor dem Mystischen, das gestern ihn heimgesucht hatte und nun auch über seine Freundin hergefallen war. Jetzt erst wurde ihm klar, was der Verlust der Liebe bedeutet.

Aus dem Nichts entzündete sich eine Kerze. Sie schien auf Christopher zuzuschweben. Schon bald erkannte er, dass sie gehalten wurde. Mehr noch, die Person, die sie trug, war in einem schwarzen Umhang gewandet. In nackter Angst saß Christopher starr auf seinem Bett und fand nicht einmal die Kraft, das kleine Lämpchen am Nachtisch zu entzünden. Stattdessen sah er die winzige Flamme auf sich zukommen, die doch immerhin so groß war, dass sie nun das Gesicht ihres Trägers preisgab. Und das kannte er wie kein Zweites.